Herzog & de Meuron

Aus der Tristesse der Klinikbauten am Stadtrand von Zürich sticht seit kurzem das von Herzog & de Meuron entworfene neue Universitäts-Kinderspital heraus. Ein schneeweisser runder Turm, das Lehr- und Forschungsgebäude, kündigt das neue Kispi von weitem an. Südlich davon zieht sich die niedrige, lange Fassade der Akutklinik in Richtung des Zürichsees. Die beiden Bauten ersetzen das zu klein gewordene Kinderspital in Zürich-Hottingen.

Typisch für die Architektur von Herzog & de Meuron wirken die Gebäude zugleich überraschend und vertraut, zugleich ungewohnt und so, als hätten sie schon immer an diesen Ort gehört. Sie erinnern an Globetrotter, die nach langen Reisen in ihre Hood zurückkehren und feststellen, dass sie jünger geblieben sind als ihre sesshaften Altersgenossen.

Zwei Pole
Das ungleiche Paar bildet keine Einheit. Es markiert vielmehr zwei Pole, die eine architektonische Spannung erzeugen. So wie medizinische Forschung und Pflege zwar demselben Ziel dienen, der Heilung, aber unterschiedlich funktionieren, folgen das Forschungsgebäude und die Klinik zwei verschiedenen räumlichen Logiken. Im Lehr- und Forschungsgebäude entfaltet sich die Welt des Studiums und des Experimentierens. Im Erdgeschoss liegen die Hörsäle um einen kreisrunden Begegnungsort – eine Reminiszenz an das im 15. Jahrhundert entstandene «Theatrum anatomicum» und damit den Beginn der medizinischen Lehre überhaupt. Darüber liegt, hell erleuchtet vom Atrium, die Bibliothek. In den weiteren Stockwerken sind Labore und Büroräume angeordnet.

Die vertikale Ordnung ist durch spiralförmige Treppen durchbrochen, ein bewährtes Motiv im Werk von Herzog & de Meuron. Es sind Scharniere im arbeitsteiligen akademischen Leben, Unterbrüche in der Hierarchie. Sie bieten für alle, die nicht den Lift nehmen möchten, ein genussvolles räumliches Erlebnis. Und sie bieten Raum für zufällige Begegnungen. Gut vorstellbar, dass hier, quasi zwischen Tür und Angel, eine Doktorandin die Hypothese der Vorgesetzten ungezwungener infrage stellt als in einem Sitzungszimmer. Dass der Laborant seiner Kollegin im Vorbeigehen einen spontanen Vorschlag macht. Oder zwei Professoren eine Intrige schmieden.

Das helle Weiss des Forschungsgebäudes signalisiert Abstraktion und Exaktheit. Hier geht es nicht um den menschlichen Körper als Ganzes, sondern um die winzigen Bestandteile, um Zellen, Gewebe, Flüssigkeiten, um Ausschnitte, Röntgenbilder, Statistiken, um Diagnose und Analyse. Es ist ein Ort der Konzentration und Reflexion, ein Raum der Freiheit von Lehre und Forschung, geschützt durch die robusten Wände der Institution. Es ist der wohl schönste Elfenbeinturm in der Schweiz.

Komplementär dazu steht die Welt der Pflege der Kinder und Jugendlichen in der Akutklinik. Sie ist horizontal organisiert, einladend und zugänglich. Die Front, leicht zurückgesetzt und leicht gekrümmt, zieht sich längs der Strasse. Die Holzelemente der Fassade sind so zusammengefügt, dass die Konstruktion klar verständlich ist. Unterschiedlich geneigte Dächer schaffen Vielfalt. Diese Struktur spricht nicht nur Spezialistinnen der heutigen Architektur an, sondern zweifellos auch Kinder, die gern mit Spielklötzen spielen und Burgen bauen. Die taillierten, an den Enden gerundeten Holzlamellen kontrastieren zum Betonraster. Sie spielen an die Typologie der Balkone von Chalets an und wecken damit Assoziationen von Geborgenheit und Freizeit. Hier ist alles niederschwellig, nichts schüchtert ein.

Sobald man vor dem Eingang steht, kommt die grösste Überraschung: Zwei wuchtige Torflügel öffnen sich zu einem breiten Zugang. Ihre Betonrahmen sind im Boden fixiert. Sie sind viel zu schwer, um tatsächlich bewegt zu werden. Wenn man das Gegenteil zur goldfarbenen Tresortür des 2021 eröffneten, von David Chipperfield Architects entworfenen neuen Kunsthauses in Zürich nennen möchte, dann wäre es das immer offene Tor zum Kispi. Während der Eingang zum Kunsthaus „geschlossene Gesellschaft!“ brummt, lacht der Eingang zum neuen Kispi: „Mich kann man gar nicht schliessen!“

Durch einen breiten Gang gelangt man ins Innere, wo sich ein runder, bepflanzter Hof öffnet. Zwei Hasenohren lugen hervor. Sie gehören zu „Kai“ aus der Gruppe von Marmorskulpturen „A Family of Three Bunnies“ (2024) der Künstlerin Claudia Comte. Vielleicht nehmen sie den Kindern und Eltern ein wenig ihrer Angst, denn jeder Gang ins Kispi ist auch mit Sorge, Nervosität und Angst verbunden. Und sie animieren, ein paar Schritte im kleinen Garten zu tun, noch einmal tief Luft zu schöpfen, bevor der eigentliche Eingang durchschritten wird.

Die Struktur im Inneren mit einer Vielzahl von Stationen, Untersuchungsräumen, der Notfallstation, Büros und dem Café wirkt großzügig und porös. Es gibt viel Tageslicht, Pflanzen, Holz, Beton, Glas und organische Farbtöne. Man findet Spielecken und sogar ein Aquarium. Der Übersichtsplan an der Wand ist aus Holz. Die spiralförmigen Treppenhäuser sind breit und angenehm zum Schreiten. Großzügige Lichthöfe mit Pflanzen und Kunstwerken bieten Abwechslung. Die Orientierung fällt leicht. Alles ist ausgerichtet auf die jungen Patienten und ihre Angehörigen sowie auf das Pflegepersonal.

Die Zimmer im oberen Geschoss sind groß genug, dass Eltern neben den Kindern übernachten können. Sie bieten Aussicht auf die Landschaft. In jedem Zimmer gibt es zwei Fenster. Neben einem großen Fenster öffnet sich ein niedriger gelegenes, kreisrundes Kinderfenster.

Innere Widersprüche
Mit der Zweiteilung des neuen Kispi in zwei räumliche Logiken überwinden Herzog & de Meuron das Dilemma der heutigen Architektur, die nach wie vor beansprucht, alles unter einen Hut bringen zu können. Die beiden komplementären Bauten homogenisieren die Unterschiede nicht. Sie sprechen wie fast alle Gebäude, die das Basler Büro entwirft, eine spezifische, auf den jeweiligen Ort bezogene Formensprache. Sie machen die inneren Widersprüche produktiv und geben der Spezialisierung der Medizin ein Gesicht.

Pflege, so erfährt man räumlich, ist ohne Forschung ebenso wenig effektiv wie Grundlagenforschung ohne Anwendbarkeit. Und dennoch sind beide nicht dasselbe. Komplexität wird architektonisch artikuliert, nicht reduziert. Es sind gerade die Vermittlung zwischen unterschiedlichen Maßstäben und die Synthese von inneren Widersprüchen – alt und neu, organisch und mineralisch, öffentlich und privat, technoid und organisch –, die das architektonische Werk von Herzog & de Meuron seit jeher auszeichnen.

Architektur und Medizin
Das neue Kispi erinnert daran, dass Anfang des 20. Jahrhunderts die Medizin eine treibende Kraft der Entwicklung der Architektur und die Architektur eine treibende Kraft der Entwicklung der Medizin war. Die Fixierung der modernen Architektur auf Hygiene und Transparenz ist ohne die Medizin nicht denkbar. Bevor es Antibiotika gab, waren Sonnenlicht, frische Luft, Thermalwasser und gut abwaschbare Oberflächen wertvolle Ingredienzien der Therapien. Mit der Veränderung der Medizin hin zur medikamentösen Behandlung rückte die Architektur der Pflege in den Hintergrund. Die meisten Luftkurkliniken schlossen. Die Thermalbäder, die so vielen Patienten eine kostengünstige Therapie ermöglichten, sind heute ein Schatten ihrer selbst. Nur in der Vorliebe für Stahlrohrmöbel und weite Fensterfronten, ausladende Dachterrassen und glatte Oberflächen lebt das Erbe der Verbindung von Architektur und Pflege bis heute fort.

Es ist ein ambivalentes Erbe. Eine ganze Architekturgeneration – darunter auch Herzog & de Meuron – hat den Formalismus der Moderne ausgeschlagen. Und im Licht einer kritischen Revision der Geschichte wird zunehmend deutlich, dass eine feine Linie im frühen 20. Jahrhundert die Ideale der Hygiene von der Ideologie der Eugenik trennte. Der Hang zu Standardisierung und Normierung lässt sich nicht gänzlich trennen von der Biopolitik, also dem Anspruch, jeden Aspekt des menschlichen Lebens zu kontrollieren und zu beherrschen. Und der Hang zum Purismus hängt zusammen mit der Verdrängung des vermeintlich Unreinen. Überspitzt gesagt: Im Weiss der modernen Architektur schwingt die Ideologie der Überlegenheit der hellen Hautfarbe latent mit.

Heilung unterstützen
Neben der Kritik des formalen Erbes hängt die Veränderung in der Architektur auch mit einer Revision der Methoden der Therapie zusammen. Es ist aus der Forschung zur sogenannten evidenzbasierten Pflege, also zu einem umfassenden Ansatz möglichst vieler Faktoren, welche die Wahrnehmung der Patienten ins Zentrum rücken, seit langem bekannt, dass der Blick ins Grüne, die angenehme Raumatmosphäre und die Anwesenheit vertrauter Menschen die Heilung unterstützen.

Herzog & de Meuron haben früh Formen für dieses Wissen gefunden. Die 2002 eröffnete und unlängst erweiterte Rehab-Klinik für Neurorehabilitation und Paraplegiologie in Basel wandte sich von der Rationalisierung und Standardisierung der Klinikarchitektur ab und schlug ein neues Kapitel auf, eben die Care-Architektur. Bereits damals wie auch jetzt in Zürich war Christine Binswanger die Projektpartnerin.

Die Farbtöne und die Materialität der Zimmer mit viel Holz schaffen eine Atmosphäre, welche die Mobilisierung von Patienten mit schweren Einschränkungen fördert. Die kleinteilige und abwechslungsreiche Anordnung von Räumen und Innenhöfen verbessert die Bedingungen für Patienten, Besuchende und Pflegende. Und die Präsenz von Elementen aus Holz filtert das Tageslicht und vermittelt zwischen dem Gebauten und der umgebenden Landschaft.

Ein Emblem dieser neuen Care-Architektur ist die eigens entwickelte Lichtkuppel in der Decke der Krankenzimmer. Sie verteilt das Tageslicht gleichmäßig im Raum. Und sie erlaubt es gelähmten Patienten, vom Bett aus, auf dem Rücken liegend, den Verlauf des Tages wahrzunehmen.

Die Lichtkuppeln über den Zimmern der Rehab-Klinik sind inspiriert vom Werk des amerikanischen Land-Art-Künstlers James Turrell, beispielsweise von den „Perceptual Cells“ der frühen 1990er-Jahre. Bereits im alten Kinderspital in Zürich-Hottingen war Turrells „My Light“ (2018) eine Attraktion für Patientinnen und Besucher. Für das neue Kispi hat Turrell den „Skyspace Sustenance“ entworfen. Es ist eine begehbare Lichtinstallation mit Blick auf den Himmel, die als Ort der Ruhe Kindern und Eltern helfen kann, Stress, Sorge und Trauer zu mildern.

Die Rehab war schulbildend. Den Ball, den Herzog & de Meuron vor einem Vierteljahrhundert ins Rollen brachten, haben seither etliche andere Büros aufgenommen. Markante Beispiele sind das Seijo Kinoshita Hospital in Tokio, entworfen von Kengo Kuma, 2015, das Chirurgie- und Gesundheitszentrum in Léo, Burkina Faso, entworfen von Diébédo Francis Kéré, 2014, und das Friendship Hospital in Satkhira, Bangladesch, entworfen von Kashef Chowdhury, 2018.

Gesellschaftliche Werte
Der Rang einer Gesellschaft zeigt sich darin, wie sie sich um die schwächeren Mitglieder sorgt, die Kinder, die Kranken, die Gebrechlichen, die Kriegsversehrten, diejenigen, die stärker herausgefordert sind. Diversität, Gleichstellung und Inklusion sind Schlüsselbegriffe für diese Haltung. Es ist bezeichnend für den Trend zu autoritären Gesellschaften, dass der amerikanische Präsident gleich am ersten Tag im Amt am 20. Januar 2025 eine Verordnung erließ, mit welcher die Grundsätze diversity, equity, inclusion in den Organen des Staates verboten werden. Diese Werte sind, auch wenn ein Gerichtsbeschluss das Dekret inzwischen teilweise aufgehoben hat, den Autoritären ein Dorn im Auge.

Am selben Tag erliess der Präsident auch einen Erlass bezüglich der Förderung von schöner öffentlicher Architektur. Sie müsse das regionale, traditionelle und klassische architektonische Erbe respektieren. Bereits am Ende seiner ersten Amtszeit hatte der Präsident einen solchen Erlass mit dem Titel „Make Federal Buildings Beautiful Again“ veröffentlicht, den sein Nachfolger später aufhob. Vorbild sind die klassizistischen Bauten aus der Zeit der Gründung der Vereinigten Staaten, die ihren Herrschaftsanspruch in Form von Symmetrie, von weißen Säulen und Giebeln ausdrückten.

Es sind reaktionäre Appelle, die das Recht des Stärkeren mit einem Rückgriff auf die vermeintlich glorreiche architektonische Vergangenheit legitimieren wollen. „Make architecture great again!“

Architektur ist untrennbar mit gesellschaftlichen Werten verbunden. Gebäude sind neben der grundsätzlichen Aufgabe, Menschen vor den Elementen zu schützen, mit vielen Fragen konfrontiert: Heissen sie Menschen von unterschiedlichem Alter, Geschlecht und Herkunft willkommen? Sind sie so organisiert, dass man sich in einem Rollstuhl oder mit einem Kinderwagen bewegen kann? Bieten sie Abwechslung und erfreuliche räumliche Erlebnisse? Bieten sie Schutz vor Kontrolle und aufdringlichen Blicken? Erleichtern sie es, soziale Hierarchien zu überwinden? Lassen sie sich ohne viel Aufwand reinigen und reparieren? Mussten ihnen bestehende Gebäude weichen, die noch ein langes Leben vor sich gehabt hätten? Stehen sie den Fallwinden im Weg, die im Sommer Kühlung bieten? Lassen sie sich heizen, ohne zu viel Energie zu verlieren? Fallen ihre Kosten kommenden Generationen finanziell zur Last? Setzt ihr Bau zu viel CO2 frei?

In der Care-Architektur laufen diese Fragen zusammen. Der Trend zur Zentralisierung zielt auf weniger und grössere Kliniken. Beispielsweise in Dänemark, wo das von Herzog & de Meuron entworfene New North Zealand Hospital in Hillerød im Bau ist. Pflegeheime und Kindertagesstätten wiederum müssen dezentral, kleinteilig und gut erreichbar sein. Es ist durchaus möglich, dass die Care-Architektur wie vor einem Jahrhundert die Verbindung von Medizin und Architektur zu einer Triebkraft der Verbesserung und Erneuerung wird. Die Zeit der monumentalen Stararchitektur ist vorbei. Die Zukunft gehört einer Architektur der Teilhabe und Solidarität. Das neue Kispi weist den Weg.

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