Herzog & de Meuron

«Man kann eine Stadt nicht einfach lassen, wie sie ist, sonst stirbt sie.»

Jacques Herzog spricht darüber, warum viele Schweizer Veränderungen ablehnen, wie unterschiedlich sich Städte trotz Globalisierung entwickeln – und warum Herzog & de Meuron nie einen eigenen Stil anstrebten.

Gute Architektur ist mehr als das «Design» von Häusern, nebst Raum gestaltet sie immer auch Umgebung und schafft so einen Ort. Die Miyuki-Strasse ist eine kleine, nicht besonders hübsche Strasse in Tokios Aoyama-Bezirk. Es gäbe keinen Grund der Welt, sich länger in dieser Strasse aufzuhalten als die paar Minuten, die es braucht, um sie zu durchschreiten – wenn nicht diese beiden Gebäude wären, die sich dort schräg gegenüber- stehen. Beide wurden von Herzog & de Meuron für das italienische Modeimperium Prada gebaut. Das mächtigere erscheint wie ein grosser, jedoch eigentümlich lebendiger Kristall mit einem bienenwabenartigen Innenleben. Schräg gegenüber steht, wie sein Antipode, das neuste Werk des Basler Büros. Es ist eine geheimnisvolle Schatulle aus Stahl, deren Inneres wie weich gepolstert wirkt, obschon aus einer dicken Schicht aus Kupfer. Es kann kein Blick in das Gebäude dringen, also «schnell, schnell hinein, bevor ich wieder zuklappe», bedeutet einem das leicht geöffnete Vordach, das gleichzeitig Fassade ist zur Strasse hin. Auch für dieses Projekt von Herzog & de Meuron gilt, was viele ihrer Arbeiten auszeichnet: Sie sind visuelle Rätsel, bei denen man erst nach ein paar Minuten merkt, dass einem die Lösung ja direkt vor den Augen steht. So unter- schiedlich die beiden Bauten auch sind, auf geheimnisvolle Art entfalten sie zusammen noch mehr Wirkung und verleihen dieser banalen Strasse im vielerorts gesichtslosen Tokio eine Identität.

Jacques Herzog lässt viel Welt in seinen Kopf, was dazu führt, dass man seinen eigenen Kopf im Gespräch mit dem Architekten immer wieder neu kalibrieren muss: Urbanisierung der Schweiz, die Kräfte der Globalisierung und ihre Folgen auf das gebaute Bild der Welt, die Bedeutung von lokaler Identität, die Weltausstellung in Mailand – die Breite der Themen, mit denen sich die Architekten von Herzog & de Meuron produktiv beschäftigen, ist immens. Architektur wird in den Räumen ihres Basler Büros im besten Sinne des Wortes verstanden als eine Disziplin, in der alle Fäden zusammenlaufen. Die Schweiz täte gut daran, wenn sie die Visionen ihrer zahlreichen, her- vorragenden Architekten vertiefter diskutieren würde.

Das Magazin: Jacques Herzog, die Welt ist auf jedem Smartphone ständig präsent, warum finden heute noch Weltausstellungen statt, sind solche Ausstellungen nicht ein Anachronismus?

Jacques Herzog: In der bisherigen Form sind sie anachronistisch und eine Verschwendung von viel Geld und Ressourcen. Die letzte Weltausstellung von Shanghai steht exemplarisch dafür: Eine Ansammlung von Pavillons, jeder mit prätentiösem individuellem Design aufgebaut und mit Ausstellungen ausgestattet, die auch sonstwo stattfinden könnten und deshalb wenig Sinn machen. Die Länder der Welt präsentieren sich durch unterschiedliches Design ihrer Pavillons und werden paradoxerweise gerade dadurch ununterscheidbar. Es ist ein Wettbewerb des Designs, dabei müsste es um Inhalte gehen. Und dann ist die Ausstellung vorbei und kein Mensch weiss mehr, was das Thema war.

Das Magazin: Der Eiffeltum ist das wohl dauerhafteste Produkt einer Weltausstellung.

Jacques Herzog: Der Eiffelturm und der Crystal Palace in London waren Ausnahmen, technische Errungenschaften ihrer Zeit, die so nur anlässlich einer Weltausstellung realisierbar waren. Das kann heute kein nationaler Pavillon mehr leisten. Deshalb muss man dieses Konzept abschaffen oder radikal neu angehen. Der Besucher sieht eine mehr oder weniger kohärente Show, die irgendwie im Zusammenhang steht zum Grossthema der Ausstellung, aber kaum ist er draussen, ist alles vergessen. Er erinnert sich nur noch an die unendlich grosse Gastromeile und den Stress, den er hatte, als er mal eine Toilette suchen musste.

Das Magazin: Dennoch haben Sie sich dafür entschieden, am Masterplan der Mailänder Ausstellung mitzuarbeiten.

Jacques Herzog: Wir stiegen darauf ein, weil auch Carlo Petrini, der Slowfood Begründer im Team war. Petrini ist eine beeindruckende und begeisternde Persönlichkeit. Seine Überlegungen zur Produktion von Nahrungsmitteln in Bezug zu spezifischen Landschaften haben uns überzeugt. Wir besuchten ihn im Piemont, wo er eine weltweit angesehene Universität für “Gastronomic Sciences” aufgebaut hat. Unsere Zusage erfolgte in der erklärten und von allen – inkl. der Bürgermeisterin Letitia Moratti – mitgetragenen Absicht, das Konzept einer Weltausstellung völlig neu anzugehen: Mehr Inhalt möglichst wenig Design. Das Thema der Ausstellung, “Feeding the Planet, Energy for Life” erschien uns dafür ein sehr geeignetes und drängendes Thema.

Das Magazin: Die Ausstellung beginnt in einer Woche. Wie muss man sich das Gelände in Mailand vorstellen?

Jacques Herzog: Unser grosses Anliegen war, mit unserem Masterplan den läppischen Design-Wettbewerb der Länderpavillons überflüssig zu machen und dafür die spezifischen Beiträge der verschiedenen Länder zur Ernährung der Welt als Inhalt zu fokussieren. Ebenso wichtig war die Nachhaltigkeit des Plans. Das Gelände ist heute eine grosse Grünfläche neben der Messe. Wir plädierten dafür, auf eine weitere gesichtslose Bebauung im Stil der Mailänder Trabantenstädte zu verzichten – uns schien es klüger, das Expogelände als grossen, urbanen Garten für die Nahrungsproduktion zu erhalten.

Es sollte eine Art Gartenstadt entstehen, mit einzelnen Gebäuden und Gastbetrieben darin, beinahe dörflich, als Kontrast zur Dichte der Metropole Mailand und als einmaliges Asset für die Attraktivität des benachbarten Messegeländes. Zusammen mit den Architekten Stefano Boeri, Richard Burdett und Mark Rylander haben wir einen solchen Plan entworfen. Carlo Petrini war als Mentor mit dabei.

Das Magazin: Es wird dennoch nationale Pavillons geben.

Jacques Herzog: Ja, das ist ja klar und auch als Botschaft zu verstehen: Es geht um eine Welt der unterschiedlichen Länder und der spezifischen Landschaften mit ihren spezifischen Qualitäten und Herausforderungen. Möglichst jedes Land soll ja dabei sein können. Leider ist es uns nicht gelungen, die Expoleitung dazu zu bringen, auf die einzelnen Länder einzuwirken, damit sie auf ein eigenständiges Design ihrer Pavillonarchitektur verzichten. Bis heute ist nicht klar, wer das abblockte…dabei wäre die Gelegenheit ja günstig gewesen, mit der Schweiz, welche als erstes Land ihre Beteiligung zusagte, ein Anfangssignal zu setzen. Welch verpasste Chance! “Steckt das Geld in die Gärten” und nicht ins Design des Gebäudes, das war immer unser Argument. Es gibt kein “nationales Design”, um “nationale Identität” auszudrücken, wie dies noch an der Landi mit den Bauten von Hoffmann oder Meile versucht wurde. Bereits die Expo in Lausanne von 1964 musste der damals bildmächtigen Architektur der Moderne den Vortritt vor den nationalen Stilversuchen lassen, und in der heute globalisierten Welt sind Versuche, nationale Identität durch eine eigene Architektursprache zu schaffen, ohnehin zum Scheitern verurteilt. Für Mailand schlugen wir deshalb standardisierte Pavillons in verschiedenen Grössen und Zusammensetzungen vor und grosszügige Zeltdächer für die Promenaden und Plätze. Ausgestiegen sind wir 2013, als klar wurde, dass es bezüglich der Pavillons die gleiche Designschlacht geben sollte wie eh und je.

Das Magazin: Können Sie den Masterplan beschreiben?

Jacques Herzog: Die Form und Infrastruktur unseres Masterplans wird umgesetzt. Wie in der römischen Stadt wird es einen Cardo und einen Decumanus geben, zwei Hauptachsen also. Die eine verläuft von Norden nach Süden, die andere von Westen nach Osten. Wir stellten uns vor, dass auf dem Cardo – also mitten auf dem Hauptboulevard der Expo – ein langer Tisch steht, wo jedes Land unmittelbar vor seinem Pavillon seine eigenen Produkte aufträgt. In dieser Direktheit und Symbolik lag die Stärke unseres Konzepts: Ein langer Tisch wie beim Abendmahl, an dem die ganze Welt zu Gast ist. Getrübt wird das Konzept, wie gesagt, durch die inidvidualisierten Länderpavillons.

Das Magazin: Was bleibt nach der Ausstellung?

Jacques Herzog: Wer weiss das? Das Problem der heutigen Politik in Italien, ist ihre grosse Unberechenbarkeit. Die Expo findet auf einem sehr gut erschlossenen Gelände statt, – ob die Gartenidee erhalten werden kann, ist deshalb fraglich.

Das Magazin: Die Expo 2015 wird eine Gelegenheit sein, sich besser mit Mailand anzufreunden. Es fällt schwer, die Stadt ins Herz zu schliessen, im Gegensatz zu Paris oder Rom zum Beispiel.

Jacques Herzog: Mailand ist nicht so hedonistisch wie Rom oder Neapel; aber Mailand ist dennoch ein Mythos. Für uns Schweizer ist Mailand die erste Stadt des Südens, ein Versprechen! Jeder kennt dieses erwartungsfrohe Gefühl bei der Einfahrt in den grossartigen Mailänder Hauptbahnhof! Und dann? Mailands Städtebau ist in seiner monolithischen Kohärenz zwar faszinierend – eine Fundgrube für Architekten – aber es gibt in dieser Stadt wenig “Leichtigkeit”: kein Wasser, keine Erhebungen, keine besondere Topografie. Mailand ist die Verkörperung der steinernen Stadt.

Das Magazin: Also genau das, womit in der Schweiz viele Mühe haben. Der antiurbane Reflex vieler Schweizer ist sehr gross, obwohl die Verstädterung des Landes längst Realität ist. Weshalb ist das so?

Jacques Herzog: Die Schweiz ist trotz zunehmender Urbanisierung nicht durch die Urbanität seiner Städte geprägt. Es gibt ja gar keine grosse Stadt in der Schweiz und wird auch kaum je eine geben. Die Schweiz ist heute eine vollständig urbanisierte Landschaft, in der es keine wirklichen Städte, aber auch keine unberührte Landschaft mehr gibt. Kann man das ändern und: soll man das ändern? Ich glaube, der Schweizer mag im Grunde seine Nachbarn nicht wirklich. Aus dieser Grundhaltung heraus ist er immer eine Spur unfreundlich und auf Distanz bedacht. Die Schweizer wollen sich abgrenzen und sich zu nichts bekennen. Das belegen die Abstimmungsresultate der letzten Jahre. Das kann man zu interpretieren versuchen und gut oder schlecht finden. In jedem Fall ist dies auch Ausdruck eines Freiheitsdranges, welcher der Schweiz im Verlaufe ihrer Geschichte zu manchem Vorteil verholfen hat. Für jegliche Idee von Stadt ist es aber fundamental wichtig, dass man mit anderen in Kontakt treten will, dass man Brücken schlägt, Öffentlichkeit sucht und sie auch akzeptiert.

Das Magazin: Die grosse Theorie des französischen Soziologen und Stadttheoretikers Henri Lefebvre besagt, dass ein Ort umso urbaner ist, je mehr soziale Interaktionen an dem Ort stattfinden.

Jacques Herzog: Im Denken von Henri Lefebvre ist der Begriff der Differenz zentral. Dort, wo Andersartiges aufeinanderprallt und sich produktiv austauscht, entsteht Urbanität. In den Zentren einiger Schweizer Städte kann man diese auf Differenz gründende Urbanität im Ansatz erkennen. Diese Urbanität erfordert auch Dichte und eine gewisse Masse. Genau das sind aber Dinge, die hier nicht gut ankommen, wie die letzten Abstimmungen gezeigt haben. Einzonungen, Aufzonungen, Hochhäuser… das alles sind für Schweizer Ohren Schimpfworte.

Das Magazin: Verdichten heisst immer auch verdrängen. Verdichtung in den Städten geht oft auf Kosten der ökonomisch Schwachen.

Jacques Herzog: Die gesellschaftliche Balance der Schweiz ist ihre Stärke. Deshalb braucht es auch Platz und Wohnraum für alle Gesellschaftsschichten. Ein starker Mittelstand ist von zentraler Bedeutung, sonst entstehen Ghettos für Arme und ebensolche für Reiche. Neue oder nachverdichtete Quartiere können für alle Ansprüche sehr attraktiven Wohnraum bieten – das ist kein architektonisches oder städtebauliches Problem, solche Modelle existieren längst und mit Erfolg. Das Problem ist, dass die extremen Kreise sowohl der Linken/Grünen als auch der Nationalkonservativen solche Projekte bisher erfolgreich blockiert haben.

Das Magazin: Der Zeithorizont in der der Politik schrumpft – die Erwartungen an Architekten und Planer steigen. Sie sollen die Schweiz bauen, aber die Politik gibt keine Vorgaben, in welcher Schweiz wir eigentlich leben sollten, das Land ist zerrissen, es herrscht ein Kulturkampf zwischen der Stadt und Land.

Jacques Herzog: Noch nie, seit ich als Architekt tätig bin, hatte die Bevölkerung so wenig Verständnis dafür, dass man Stadt immer weiter bauen muss. Dabei ist dies eine unvermeidliche Tatsache: Man kann eine Stadt nicht einfach so lassen, wie sie ist und konservieren, sonst stirbt sie. Wir müssen sie ständig verändern, und dadurch verändert sich eben auch das Leben ihrer Bewohner. Dieser Prozess macht vielen Mühe, obwohl mittlerweile verschiedene Mitbestimmungsmodelle in der Planung eingesetzt werden.

Das Magazin: War das denn in der Schweiz mal anders?

Jacques Herzog: Ich kann mich erinnern, wie mein Vater mir in den Sechzigerjahren die damals neue Basler Kunstgewerbeschule gezeigt hat, voller Stolz auf den modernen Bau. Als kleiner Junge fand ich das natürlich irrsinnig spannend. Wir gingen gerne auf Baustellen! Es war reizvoll, dort zu leben, wo es modern war. Heute ist es doch eher umgekehrt, und diese kritische und skeptische Haltung ist auch verständlich, wenn man sich die Flut an Hässlichkeit vergegenwärtigt, die sich in der Schweiz seit den 60ern breit gemacht hat. Skepsis und Kritik ist nie schlecht, schlecht ist hingegen die Lust- und Freudlosigkeit und der Mangel an Bereitschaft, Neues zu wagen und willkommen zu heissen, auch wenn es grösser ist und anders, als das, was man zuvor gekannt hat. So wird die Planung in der Schweiz paralysiert und zu einem freudlosen, technokratischen Geplänkel, wo es nur darum geht, auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner herumzureiten.

Das Magazin: Der extreme Föderalismus, der beinahe einen Fetischcharakter hat, erschwert die Raumplanung in der Schweiz zusätzlich.

Jacques Herzog: Der Föderalismus ist die unantastbare DNA der Schweiz – aber auch der Föderalismus muss sich wandeln, wenn wir ihn erhalten wollen. Wir brauchen einen Föderalismus, der die gelebte Alltagsrealität besser abbildet: Multikantonale Grossregionen und Metropolitanregionen, die in einem Wettstreit sind. Eine starke Region Zürich reicht nicht, sondern schadet und provinzialisiert die Schweiz. Genf und Basel, aber auch andere Städte sind gleichwertig zu fördern. Wir sind gefordert, die Schweiz effizient und kompetitiv zu gestalten. Das weiss die Politik und die Landesplanung ist in der Art aufgestellt. Aber dieses wirklich grundlegend föderalistische Bild der Schweiz ist noch nicht wahrnehmbar und noch lange nicht in den Köpfen der Menschen angekommen.

Das Magazin: Diese Diskussionen währen schon lange, es scheint sich aber nicht viel zu bewegen, die Begeisterung für Neues fehlt, es ist, als habe man den Glauben an den Fortschritt zumindest im Städtebau verloren.

Jacques Herzog: Stadt Bauen heisst eigentlich, den zukünftigen Ort für den Menschen bauen. Was für ein Ort soll das sein, wie wird die Zukunft aussehen? Je lebendiger diese Diskussion geführt wird, je mehr Menschen, Quartiergruppen, Feuilletons, Fernsehformate, Schulen und Universitäten sich mit dieser Frage beschäftigen, desto mehr bewegt das unsere ganze Gesellschaft. Wir wünschen uns mehr Debatte und nicht weniger. Debatte mit Engagement und Pragmatismus, nicht mit dem Missmut und der populistischen Voreingenommenheit, wie ihn inzwischen auch Lokalredaktionen wichtiger Tageszeitungen verbreiten.

Das Magazin: Sie sind skeptisch, was die Zukunft der Raumplanung in der Schweiz anbelangt. In einem letztjährigen Beitrag für die NZZ haben sie sich beinahe satirisch geäussert.

Jacques Herzog: In der Schweiz funktioniert Planung von oben nach unten nicht, – aber von unten nach oben auch nicht, weil wir zu gespalten sind. Es herrscht eine grosse Uneinigkeit darüber, in welche Richtung sich das Land entwickeln soll. Ausnahmen sind die grossen globalen Firmen, die ihre Gelände städtebaulich verdichten und in viel interessanterer Art entwickeln, als dies der Staat oder Einzelinvestoren hierzulande zu leisten imstande sind.

Das Magazin: Namhafte Architekten wie Sie bauen nur noch teure Prestigebauten, der klassische Wohnungsbau interessiert die gar nicht mehr, das ist ein Vorwurf, der häufig an Ihre Zunft gerichtet wird.

Jacques Herzog: Der einzelne Wohnungsbau ist weniger interessant als die Konzeption eines ganzen Quartiers, wo verschiedene Architekten zum Zuge kommen. Das gibt es heute zwar auch, es ist aber zum Aufgabenbereich von grossen Investoren geworden, – anders als bei den gründerzeitlichen, historischen Quartieren unserer Städte. Der Grossinvestor baut grosse zusammenhängende Blöcke, quasi aus einer Hand, während früher,- z.B. im Gundeldingerquartier in Basel – jede einzelne Parzelle von einzelnen Kleininvestoren, Familien etc. bebaut wurde, was zu einer grösseren Vielfalt führte, die wir heute als “schön” empfinden, obwohl die einzelnen Bauten nicht immer so toll sind. Dieses Modell ist heute ökonomisch schwierig geworden, d.h. das damit verbundene städtebauliche Dilemma ist nicht in erster Linie ein architektonisch-ästhetisches, sondern auch eines der wirtschaftlichen Veränderungen in unserer Gesellschaft.

Das Magazin: Was wäre denn, rein theoretisch, die beste Lösung, um dem Land baulich Kontur zu verleihen?

Jacques Herzog: Mit einer radikalen Idee: Man kann nur noch dort bauen, wo schon etwas steht, ein Parkplatz, eine Rabatte, ein verlassenes Rangierfeld, eine unternutzte Bauparzelle etc., d.h. an den vergessenen oder verwahrlosten Unorten unserer Städte. Solche Szenarien untersuchen Pierre de Meuron und ich seit einiger Zeit am ETH-Studio in Basel zusammen mit unserer Assistenz und den Studierenden. Das ist nicht nur ein interessanter Wahrnehmungsprozess, weil wir viel Interessantes und Unbekanntes an alltäglichen Orten entdecken, es macht auch Potenziale sichtbar, die wir alle unterschätzt haben und deren Neunutzung eine politische Chance bedeuten.

Das Magazin: Lassen Sie uns über die jüngste Publikation des ETH-Studios Basel reden. Sie und ihre Kollegen zerpflücken die These, wonach die Globalisierung alle Städte gleich gemacht habe.

Jacques Herzog: Natürlich gibt es in immer mehr Städten Starbucks, MacDonalds, Zara, etc. all diese globalen Konzerne eben. Dieses Phänomen betrifft jedoch vor allem die Fussgängerzonen der Innenstädte und Geschäftszentren, Orte also, die ohnehin nicht durch das gewöhnliche Alltagsleben der Menschen geprägt werden. Dort jedoch, wo das eigentliche Leben stattfindet, in den Wohnquartieren, Industriebezirken und an den Stadträndern haben sich Städte extrem unterschiedlich entwickelt und dies oftmals gerade als eine Reaktion auf die Globalisierung. Im Verlaufe ihrer Geschichte werden Städte immer spezifischer.

Das Magazin: Die gegenteilige These stammt von ihrem Kollegen Rem Koolhaas, sein Buch “Generic City”, die Stadt ohne Eigenschaften, ist vor zwanzig Jahren auf grosse Beachtung gestossen.

Jacques Herzog: Die These von Koolhaas war seinerzeit wichtig: Sie war anregend, provokativ und vor allem plakativ; sie hat zu vielen guten Diskussionen geführt. Aber sie ist falsch. Die meisten Thesen und Theorien haben sich im Verlauf der Architekturgeschichte als unbrauchbar erwiesen und dennoch waren sie einst wichtig, um die Debatte, wie man Städte bauen soll, überhaupt weiterzuführen. Es gab die ideale Stadt der Renaissance, die Gründungsstädte des Mittelalters, revolutionäre Stadtutopien des 18. und 19. Jahrhunderts in Frankreich und Russland, le Corbusiers “Ville radieuse”. Wenn man heute genau hinschaut, muss man feststellen, dass diese Theorien und Utopien die tatsächliche Entwicklung von Städten nicht zu erfassen vermögen; die Realität hat immer alles widerlegt. Alle Städte des römischen Reiches waren zum Beispiel gleich angelegt, selbst die meisten Häuser waren identisch. Und doch haben sich alle im Verlauf der Geschichte ganz anders, eben “spezifisch” entwickelt.

Das Magazin: Welche Faktoren führen denn zu dem, was Sie als die “Spezifität” der Städte bezeichnen?

Jacques Herzog: Alle Städte werden im Verlauf ihrer Geschichte und Entwicklung von drei grossen Kräften beeinflusst: Ihre Lage, also das Territorium, auf dem sie sich entwickeln. Die Machtstrukturen, in die sie eingebunden sind; diese sind zum Beispiel politischer oder ökonomischer Natur. Und schliesslich das, was meine Kollegen und ich als Differenz bezeichnen. Darunter verstehen wir die Fähigkeit einer Stadt, sich zum Beispiel ökonomisch zu diversifizieren, oder kulturelle Vielfalt zu erzeugen. Das Zusammenspiel dieser drei Kräfte zwingt jede Stadt in spezifische Muster, welche diese Unterschiedlichkeit hervorbringen.

Das Magazin: Es fällt auf, dass Sie skeptischer geworden sind gegenüber Grosstheorien. Sie plädieren für das reine Schauen, für einen unverstellten Blick sozusagen.

Jacques Herzog: Uns interessiert das Denken und Schauen mehr als Theorien, weil dies unsere alltägliche Praxis unterstützt. Wir sind jedoch nicht theoriefeindlich; wir haben ja auch eine lange Geschichte mit dem Basler Soziologen Luzius Burckhardt und Aldo Rossi war einer unserer Lehrer an der ETH – auch er ein Mann mit grossen Theoriegepäck.

Wir vergleichen Architektur gerne mit einer Landschaft, einer künstlichen Topografie, die für den Menschen gemacht wird, damit er sich wohl fühlt. Dazu gehörten im Verlauf unserer Karriere zunehmend grössere, öffentliche und teilweise sehr sichtbare Projekte in völlig unterschiedlichen Gesellschaften auf dieser Welt. Dass viele dieser Projekte so gut funktionieren, d.h. von den Menschen einer Stadt angenommen und “selbstverständlich” wurden, ist das für uns entscheidende Thema. Diese Vielfalt an unterschiedlichen Projekten konnte nicht aus einer “Theorie” heraus entstehen, sondern eher aus einer “Strategie” heraus: durch genaues, unvoreingenommenes Beobachten, naives Hinschauen sozusagen. Ein Architekt muss einen Ort verstehen, bevor er ihn verändert. Das ist eine grosse Herausforderung, denn die Veränderung soll ja dauerhaft sein.

Herzog & de Meuron hat in den letzten Jahren sehr sichtbare Objekte an prominenter Lage gebaut. Es war uns immer wichtig, nicht nur das Raumprogramm des Bauherren zu erfüllen, sondern auch Öffentlichkeit zu schaffen; Orte, wo der Mensch lokale Identität spürt, eine Atmosphäre erlebt, und dennoch mit der Welt verbunden bleibt. Gebäude müssen ins soziale Leben einer Stadt eingebettet sein, nur so können sie überleben, nur so schafft ein Architekt auch etwas Dauerhaftes.

Das Magazin: Die Tate Modern ist ein Beispiel fĂĽr einen solchen Bau, der an einem eigentlichen Nichtort, der South Bank in London, ungeheuer viel Ă–ffentlichkeit geschaffen hat.

Jacques Herzog: Ja, die Tate Modern ist ein Beispiel, das gut veranschaulicht, was ich mit dieser dauerhaften Veränderung meine: Mit diesem Bau entstand ein völlig neuer, öffentlicher Ort. Es ist nicht nur ein Museum, vermehr bietet die Turbinenhalle als öffentliche Zone einen Treffpunkt für ganz London und für sagenhafte fünf Millionen Besucher jährlich… Viele gehen dorthin, bloss, um in diesem Raum zu stehen, der alle zwölf Monate mit einer neuen Grossinstallation eines Künstlers bespielt wird.

Das Magazin: Was empfinden Sie denn noch, wenn Sie in der Tate sind?

Jacques Herzog: Wir sind entspannt, wenn wir sehen, dass dieser Raum so gut bespielt wird und so populär ist. Aber wir sehen es nicht als “unser” Gebäude; wir haben keine so persönliche Beziehung zu Gebäuden, sie sind zwar von uns aber nicht für uns gemacht und müssen ohne uns funktionieren.

Das Magazin: Mal ganz grundlegend gefragt: Was ist das denn eigentlich, Architektur?

Jacques Herzog: Es ist der Versuch, das Leben für den Menschen angenehmer zu machen. Ohne Gebäude müssten wir draussen leben, hätten keinen Schutz vor Wind und Wetter und Feinden. Vor etwa 12000 Jahren begannen Menschen sesshaft zu werden – seit damals bemüht sich der Mensch “Architektur” als eine dauerhafte Einrichtung zu schaffen, die ihm dient und vor allem auch gefällt!

Das Magazin: Wir sprachen von Städten, Metropolen und Agglomerationen. Lassen Sie uns den Massstab verkleinern. Was ist das wichtigste Element der Architektur?

Jacques Herzog: Schon nomadische Völker entwickelten Architekturen, z.B. ein Grab, eine Felsmalerei oder einen Zaun. Der Zaun, resp. seine festere Form, die Mauer ist vielleicht das grundlegendste Element der Architektur. Sie unterscheidet eine Seite von der anderen, sie definiert Innen und Aussen, sie trennt Dein und Mein. Ohne Mauer gäbe es keine menschliche Zivilisation – nur das Paradies kennt keine Mauer, weil alles eins war und weil es keine Unterscheidung gab und diese auch nicht brauchte.

Das Magazin: Menschen haben immer gebaut, auch ohne professionelle Architekten. Kann es sein, dass die Rolle der Architektur überschätzt wird?

Jacques Herzog: Im oben erwähnten Buch “The inevitable specificity of Cities” des ETH-Studios sind ja viele Städte, nicht nur der dritten Welt beschrieben, in denen ganze Quartiere aus “informeller” Planung entstehen, viele davon ohne Architekten und gar ohne professionelle Baufirmen. Viele dieser Quartiere sind nicht einfach Slums und Wohnorte benachteiligter Menschen, sondern viel komplexere soziale, ökonomische und ästhetische Lebenswelten. In einem so stark regulierten Land wie die Schweiz sind solche Orte unvorstellbar – und doch wäre der Versuch, in unseren Agglomerationen versuchsweise Orte für Verdichtung mittels Selbstregulierung einzurichten, interessanter als das “partizipative Bauen ” der 70er Jahre, welches bloss biederen Design hervorbrachte. Die informellen Quartiere von Nairobi, Niltal, Casablanca, Mexico City oder Belgrad sind ungleich lebendiger als viele von professionellen Architekten gebauten Orte.

Das Magazin: Wie rasch sehen Sie eigentlich, ob ein beliebiges Gebäude Qualität hat?

Jacques Herzog: Man sieht einem Gebäude an, ob es mit “Ambitionen” daherkommt oder nicht. Gebäude können wie Menschen prätentiös wirken. Deswegen ist der Selbstbau des Laien ja so interessant, weil eine Absichtslosigkeit, ja eine Art Unschuld zum Ausdruck kommt. Es gibt zwar auch hier diese erkennbaren ästhetischen Vorlieben, die wir häufig als Kitsch abtun, wenn sie in den Schweizer Vorgärten sichtbar werden. Informelle Quartiere sind aber anders. Sie sind gebaute Notwendigkeit. Solche Häuser haben eigentlich immer eine Qualität. Hierzulande ist in jedem Haus immer extrem viel Absicht oder Ambition erkennbar; man sieht sofort, wenn Architekten einen so genannten “guten Geschmack” haben. “Geschmack” ist aber eigentlich das Schlimmste, besonders wenn er sich im ganzen Land ausbreitet – wie nun schon seit Jahren diese riesigen rechteckigen Fensterscheiben, die uns wie blinde Augen aus rechteckigen Kisten anstarren.

Das Magazin: Sie sagten, es gäbe keinen HdM-Geschmack. Wenn man sich alle Ihre Arbeiten anschaut, man kann sogar sagen, es gibt keinen HdM-Stil, keine Handschrift, die ihre Arbeiten sofort erkennbar machen.

Jacques Herzog: Wir haben nie etwas angestrebt, das man als einen eigenen, typischen Stil bezeichnen würde. Pierre de Meuron und ich haben stets, – eigentlich seit unseren gemeinsamen Anfängen als Primarschüler – das Experimentelle gesucht, weil es unserem Charakter und unserer Neugierde entspricht. Auf erkennbaren Stil zu verzichten, war also zunächst keine bewusste Entscheidung. Erst nach einigen Jahren und unseren ersten Gebäuden haben wir das Potential und die Neuartigkeit dieser Haltung verstanden. Wir erkannten die täglichen Schwierigkeiten, so völlig ohne selbstauferlegte Regeln immer neue Projekte anzugehen, wir sahen aber vor allem den enormen Freiraum, in den wir vorstossen konnten. Wir wollen uns bis heute nicht selbst dazu versklaven, ständig ikonische Gebäude bauen zu müssen, die mehr an uns erinnern als an den spezifischen, neuen Ort, der jeweils durch einen Bau geschaffen wird. So gesehen ist es nicht klug, für einen Stil oder einen Geschmack zu stehen. Wir sagen das immer wieder, nicht aus Bescheidenheit oder Selbstkasteiung, sondern weil wir unabhängig bleiben wollen und neugierig sind auf Neues.

Das Magazin: Es gibt keinen HdM-Stil, aber doch einen Weg, den Sie und Pierre de Meuron in ihren Arbeiten gegangen sind. Ihre frühen Gebäude, wie etwa der Minimalismus des Museums für die Sammlung Goetz, kann man verstehen als eine Antwort auf den Postmodernismus der Achtzigerjahre, mit diesen Gebäuden die aussahen wie grosse Kaffeetassen oder Fassaden hatten, welche die Akropolis zitierten.

Jacques Herzog: Unsere Nähe zur Kunst und zu Künstlerfreunden hat unsere architektonische Spur in den Anfängen sehr begleitet: der amerikanische Minimalismus der 60er Jahre, Pop, aber auch die deutsche Malerei und natürlich Beuys. Am stärksten sind wir wahrscheinlich beeinflusst von der Konzeptkunst, weniger vertreten durch einzelne Künstler, als von der strategischen Macht der Konzepte. Jedes Projekt wird mittels einer eigenen Strategie konzeptuell aufgestellt. Dieses Konzept muss so gut sein, dass es am Schluss im fertigen Bau nicht mehr erkennbar bleibt; der Bau soll dann ganz selbstverständlich an seinem Ort stehen, basta. Den Architekten und seinen Ideen werden Historiker eh einst ausgraben, wenn es dafür einen Bedarf gibt.

Das Magazin: Später kam dann das Ornament dazu, sie versöhnten sozusagen den Minimalismus mit dem Ornament. Diese Synthese lässt viele Ihrer Gebäude irgendwie flirrend und sehr organisch leicht erscheinen, ihre Gebäude sind immer auch Objekte, die man so noch nie gesehen hat. Sie scheinen wie aus einer anderen Zeit zu sein, als ob sie gigantische Figuren wären eines Brettspiels extraterrestrischer Künstler.

Jacques Herzog: Was man als Ornament bezeichnet, wird im gemeinen Sprachgebrauch oft falsch verstanden. Es geht nicht um Dekoration, also nicht darum, eine Gebäudehülle irgendwie zusätzlich zu verzieren. Das Ornament selbst konstituiert vielmehr den Bau, schafft dessen Form. In unseren besten Bauten sind idealerweise Konstruktion, Raum und Ornament nicht mehr unterscheidbar, sie fallen zusammen. Wenn das mal erreicht ist, erklärt sich alles wie von selbst, Ornament, Raum und Konstruktion müssen nicht mehr begründet werden, es herrscht eine grosse Ruhe.

Das Magazin: Meiner Meinung nach sieht man das exemplarisch am Prada Ayoama Gebäude in Tokyo aus dem Jahre 2003. Ein komplexes, aber gleichzeitig rational klares Gebäude, es ist wie ein irreales Lebewesen, das gleichzeitig hart ist wie ein Diamant aber dann doch wieder weich.

Jacques Herzog: Es begann schon frĂĽher, mit dem Steinhaus in Ligurien, der Dominus Winery im Napa Valley, sehr deutlich ist dieses Prinzip auch beim Parkhaus 1111 Lincoln Road in Miami oder beim Olympic Stadium in Peking.

Das Magazin: Die Skala ihrer Arbeit ist gewaltig. Ein gewaltiges, komplexes Museumsprojekt ist in Hongkong am entstehen, letztes Jahr bauten sie in Riehen das Naturbad, ein vergleichsweise winziges Projekt mit einer fast Zen-artigen Simplizität. Wie ist das möglich?

Jacques Herzog: Ich habe versucht, das mit unserer Tabulosigkeit zu erklären, die eben von festgelegten ästhetischen und theoretischen Maximen absieht. Wir gehen jedes Projekt völlig frei an, so als ob es das allererste wäre. Man sollte auch nicht immer gleich eine Meinung haben.

Das Gespräch fand am 12. April 2015 in Basel statt.

SUP-TAG_150425_940_9018_Page_2

SUP-TAG_150425_940_9018_Page_2

SUP-TAG_150425_940_9018_Page_3

SUP-TAG_150425_940_9018_Page_3

SUP-TAG_150425_940_9018_Page_4

SUP-TAG_150425_940_9018_Page_4

SUP-TAG_150425_940_9018_Page_5

SUP-TAG_150425_940_9018_Page_5

SUP-TAG_150425_940_9018_Page_6

SUP-TAG_150425_940_9018_Page_6

SUP-TAG_150425_940_9018_Page_7

SUP-TAG_150425_940_9018_Page_7

SUP-TAG_150425_940_9018_Page_8

SUP-TAG_150425_940_9018_Page_8