Herzog & de Meuron

J. CHRISTOPH BÜRKLE: Wie geht dir; wie geht es eurem BĂŒro?

JACQUES HERZOG: Danke, gut, was die geschĂ€ftliche Seite betrifft. Dem BĂŒro geht es sehr gut, wir wachsen immer noch – langsam; das haben wir mittlerweile besser im Griff. Wir könnten noch mehr Projekte annehmen, wollen jedoch weiterhin sehr selektiv sein. Die Schweiz ist noch immer ein Land, in dem fĂŒr die Architekten, sowohl von der Menge als auch von der QualitĂ€t her, gute ZustĂ€nde herrschen, verglichen mit den meisten anderen LĂ€ndern, wo wir tĂ€tig sind. Hier sind die Architekten dem Bauherrn und auch der AusfĂŒhrung noch nĂ€her. Inhaltlich betrachtet wird es natĂŒrlich nicht einfacher, ein so grosses, weltweit tĂ€tiges Unternehmen auf Kurs zu halten und auch intellektuell so zu fordern, wie wir es stets taten. Aber wir treiben das voran; wir stellen es in den Vordergrund unserer Arbeit. Die Welt verĂ€ndert sich dramatisch und die Architektur und insbesondere die StĂ€dte mĂŒssen diesen VerĂ€nderungen gerecht werden. Was können wir als Architekten dazu beitragen? Architektur als Denkform – wie der Titel unserer ersten Ausstellung 1989 lautete – ist aktueller denn je.

JCB: Unter den Schweizer BĂŒros hat eures die grösste internationale Ausstrahlung. RĂŒckblickend betrachtet ist es doch sicherlich anstrengend, wenn man immer Avantgarde sein will. Ihr wart oftmals die ersten, die neue Themen gesetzt haben. Wie schafft man das ĂŒber einen so langen Zeitraum?

JH: Architektur kann sich nur aus sich selbst heraus definieren und immer wieder neu erfinden. In dem Sinne sind wir SchĂŒler von Aldo Rossi und verfolgen diesen Ansatz weiter – vielleicht in einem noch viel archaischeren Sinn. Wir sind immer von der Architektur ausgegangen und haben uns nicht bloss aus lĂ€stiger PflichterfĂŒllung mit Architektur und deren Realisierung auseinandergesetzt, wie das andere bekannte und innovative Architekten unserer Generation taten und auch entsprechend verkĂŒndeten. Dennoch haben wir stets andere benachbarte Gebiete, vor allem die Sozialwissenschaften, die Psychologie und natĂŒrlich die bildende Kunst aufgespĂŒrt und wie SteinbrĂŒche ausgebeutet.

Ein wichtiger Impuls, den wir sozusagen fĂŒr uns selbst setzten, war die GrĂŒndung des ETH Studios Basel, zusammen mit Marcel Meili und Roger Diener. Eigentlich ohne strategische Absicht ins Leben gerufen, hat sich dieser Ort als GlĂŒcksfall erwiesen fĂŒr unsere Auseinandersetzung mit den Problemen der Urbanisierung unseres Planeten. Diese hĂ€tten wir vier so in unseren BĂŒros nicht fĂŒhren können. Sie fordert uns stets stark heraus. Die Arbeit im Studio ist fĂŒr alle sehr anstrengend, aber auch lohnenswert, weil wir im wahren Sinn des Wortes an Orte gelangen, die wir uns nicht hĂ€tten ertrĂ€umen können. Die Auseinandersetzung mit anderen StĂ€dten und Problemen auf der ganzen Welt bringt uns auf andere Ideen.

JCB: Wie schafft ihr es, dass ihr Projekte immer zum Ausdruck eines Themas macht? Letztlich wirken eure Bauten alle immer so schlĂŒssig, als hĂ€tte es keine Alternativen gegeben. Wird ein Thema zum Projekt, oder entsteht aus dem Projekt das Thema? Diese objekthafte Einzigartigkeit – ob das der Prada Store in Tokio [2003] oder die Dominus Winery bei San Francisco [1998] ist: Wie gelingt es euch, einerseits den Kunden zu ĂŒberzeugen und andererseits, dass die Projekte immer etwas Ikonisches haben?

JH: FrĂŒher haben wir das nicht so gut gekonnt; damals haben wir immer auf ein Projekt hingearbeitet, das, wie du sagst, so war und nicht anders; wir haben nie mit Alternativen gearbeitet. Das war noch bei der Tate Gallery [London, 1995] so, doch dort kamen wir mit dieser Haltung, die ich heute als sehr schweizerisch wahrnehme, nicht weiter, weil sie etwas Hermetisches und etwas Defensives hat. Wir hatten an der Hochschule gelernt, so zu arbeiten: nicht in Varianten, sondern in Bestimmtheiten zu denken. Wir arbeiteten damals immer in eine Richtung, mit sehr viel Intuition. HĂ€uïŹg trafen wir damit ins Schwarze, sonst hĂ€tte uns die Tate gar nicht ausgewĂ€hlt. Aber wir lernten spĂ€ter auch, so zu arbeiten, dass wir sehr vieles zunĂ€chst als Potenzial auf den Tisch legen, parallel untersuchen, um es in einem offenen Dialog mit dem Kunden an die bestmögliche Lösung anzunĂ€hern. Das ist unsere Methode. Wir mĂŒssen uns erst selbst ĂŒberzeugen, bevor wir einen Kunden ĂŒberzeugen können – aber dann ist es oft viel einfacher. Gute Projekte sind hĂ€uïŹg interessant, weil sie so komplex sind, dass man sie von ganz verschiedenen Seiten befragen kann. Sie eröffnen wieder andere Fragen und diese wiederum eröffnen einen Reichtum und keine Sackgasse.

HUBERTUS ADAM: Charakteristisch fĂŒr euer Werk sind Themen, die immer wieder auftauchen, variiert und aufs Neue behandelt werden oder in den Hintergrund treten. Ein Thema ist selten mit einem Projekt abgehandelt, und die einzelnen Projekte verstehen sich meinem EmpïŹnden nach auch nicht als ultimative Statements, nach denen es nichts mehr zu sagen gĂ€be.

JH: TatsĂ€chlich sind unsere Projekte sehr verschieden und in gewisser Weise eine einzigartige Lösung. Dennoch wĂ€re es falsch zu behaupten, die Architektur könne mit jedem Projekt sozusagen neu erfunden werden. Man kann jedes architektonische Werk der Geschichte durchstöbern und nach verschiedenen Gesichtspunkten anschauen, und man wird immer irgendwelche Muster ïŹnden. Es gibt Historiker, die das Typologien nennen. Es sind aber nicht immer Typen, sondern auch andere, weniger kategorische Grundmerkmale, die man nicht vermeiden kann und soll. Es gibt viele Architekten, die sich ihrer eigenen Muster nicht wirklich bewusst sind, Ă€hnlich wie die meisten Menschen auch im Privaten ihre Muster nicht kennen. Wir halten das fĂŒr ein sehr spannendes Thema, weil Architektur und Psychologie plötzlich ganz nahe zueinander rĂŒcken.

JCB: Es liegt sicher auch daran, dass ihr von Beginn an nie zu einer explizit eigenen Formen- oder Produktsprache gelangen wolltet wie andere Architekten. Viele arbeiten darauf hin, zum Beispiel Frank Gehry. Bei euch ist es komplett anders. Man weiss nie, wie ein Projekt aussehen wird, aber man weiss immer, dass es bedeutungsvoll sein wird. Daran habt ihr wohl schon ganz frĂŒh gearbeitet.

JH: Als junge Architekten macht man das nicht so bewusst, aber wir hatten tendenziell eine Abneigung gegen Corporate Design. Am Anfang der Karriere möchte es doch jeder anders machen als die etablierten Player. Zu unserer Zeit waren das Architekten wie Richard Meier oder Mario Botta: Die waren ganz klar an ihrem Stil zu erkennen und dieser Stil war ĂŒberall prĂ€sent und anerkannt. Ein erkennbarer Stil erleichtert es natĂŒrlich, sich in einem Markt zu etablieren; das kennt man auch von anderen Produkten. Aber der Funktionsweise des Marktes entspricht es auch, dass man irgendwann einmal genug davon gesehen hat. Einige Architekten haben sicher darunter gelitten, dass man sie auf ihren Stil festlegte und sie diesen mitschleppen mussten wie andere Menschen einen Buckel. Jeder Architekt und ĂŒberhaupt jeder Mensch hat einen Buckel oder ein Muster. Weil wir das wissen und tĂ€glich beobachten können – auch bei uns –, versuchen wir, gegen diese Muster zu arbeiten, um so zu einer neuen Balance zu gelangen oder eine neue Perspektive zu eröffnen. Das ist es vielleicht, was du unter ,neu erïŹnden‘ oder ,Avantgarde‘ verstehst. FĂŒr uns ist es eine Art zu arbeiten, vor allem aber eine Art zu leben. Das Bewusstsein und Ansprechen dieser Muster und Obsessionen, die uns alle umtreiben, mag fĂŒr Architekten ungewöhnlich sein. Dessen ungeachtet ĂŒben sie eine offensichtliche Gestaltungsgewalt in unserer gesamten urbanisierten Welt aus und schlagen sich unmittelbar physisch nieder. Unser Text zur “speziïŹschen Stadt” handelt davon, und am ETH Studio in Basel werden wir gemeinsam mit dem Lehrstuhl von Marcel Meili und Roger Diener diese Fragen in einer umfassenden Studie weiter untersuchen.

HA: Das Erstaunliche ist, das euch das Sich-neu-ErïŹnden mit einem grossen BĂŒro gelingt. In einem kleinen BĂŒro wĂ€re das sicher einfacher. Dann gibt es die erwĂ€hnten Architekten, die dadurch gross wurden, weil man immer das gleiche Produkt von ihnen ordern kann. Und jene, die keine so grossen gestalterischen Ambitionen haben, aber durch eine Professionalisierung in der Abwicklung gross geworden sind. Aber selten schafft es jemand, Grösse und gestalterische HeterogenitĂ€t miteinander zu verbinden. Aber gibt es eine Grösse, bei der man das nicht mehr schafft? Setzt das Wachstum Grenzen? Muss man bei 360 Mitarbeitenden zu viele Kompromisse eingehen?

JH: Die QualitĂ€t der Firma war immer abhĂ€ngig von der KreativitĂ€t, die in den Aufbau der Firmenstruktur investiert wurde. Und darin gehören wir sicher zu den Besten der Welt, jedenfalls in unserer Generation. Nicht bloss beim Architekturentwurf erwies es sich als GlĂŒcksfall, dass Pierre und ich gemeinsam die Geschicke des BĂŒros leiteten und nicht einer fĂŒr alles verantwortlich ist. Sicher hat darin Pierre mehr Verdienste, und dennoch tauschen wir uns auch zu diesen Themen rege aus. Gerade in den letzten Jahren noch intensiver, wo uns die Fragen der Grösse unseres BĂŒros heute, morgen und ĂŒbermorgen so dringend erscheinen und wir die Idee eines Generationenmodells erarbeitet haben, bei welchem die wichtigsten Partner zunehmend mehr Verantwortung ĂŒbernehmen und Anteile der Firma erwerben können. Wenn ich sage, wir gehören bei diesem Aufbau einer erfolgreichen BĂŒrostruktur zu den Besten, dann deshalb, weil wir stets den Entwurf der Architektur und den Entwurf der Arbeitsbedingungen auf das gleiche Level stellten. Wir wollten bereits frĂŒh jĂŒngere Architektinnen und Architekten fördern und zu Partnern machen. Heute sind Christine Binswanger, Ascan Mergenthaler und Stefan Marbach als Senior Partner zusammen mit Pierre und mir in der obersten Verantwortung. Eines Tages werden vielleicht noch andere dazustossen und Pierre und ich werden nicht mehr alle Projekte gleichermassen inspirieren und eng begleiten können wie heute. Dann wird man sehen, wie gut das angedachte Generationenmodell funktionieren kann. Gibt es Streit und EifersĂŒchte um Geld und QualitĂ€tsvorstellungen oder lĂ€sst sich das alles in einer entspannten AtmosphĂ€re leben? Wir wissen es nicht, aber wir sind zuversichtlich – sonst wĂŒrden wir nicht darauf hinarbeiten.

JCB: Obwohl es einen diskursiven Entwurfsprozess gibt, hat man gerade bei euch den Eindruck, dass ihr euch ziemlich stark durchsetzt.

JH: Durchsetzen 
 gegenĂŒber unseren Partnern, dem Bauherrn oder der Öffentlichkeit? Spielt eigentlich keine Rolle. Wichtig ist, wie du sagst, der diskursive Prozess, der jeden Beteiligten zur Argumentation zwingt. Es ist unsinnig, diskursive Prozesse durch autoritĂ€res Gehabe abzukĂŒrzen. Es ist vielleicht mĂŒhsamer, Ă€hnlich wie bei den demokratischen Prozessen in der Schweiz, die immer noch Abstimmungsprozesse durchlaufen mĂŒssen, um schliesslich von allen akzeptiert zu werden. Wir sind im BĂŒro sicher nicht so geduldig; es drĂ€ngt immer alles und die Diskussionen und permanenten Änderungen zwingen uns alle, stĂ€ndig prĂ€sent zu sein, um diesem Diskurs zu folgen. Aber in der Öffentlichkeit ist der Diskurs vereinfacht, um verstĂ€ndlich fĂŒr alle zu sein. Hier ist auch der Architekt kommunikativ gefordert, wenn es darum geht, grosse Bauvorhaben zu vermitteln. Öffentliche Bauprojekte, die durch Abstimmungen bestĂ€tigt wurden, stehen jedoch wortwörtlich auf einem besseren Fundament.

HA: Diese Situation hierzulande ist durchaus gefÀhrdet. Wie wird es in zehn Jahren aussehen? Wird sich die Schweiz dem europÀischen Umfeld anpassen oder bleibt sie resistent?

JH: Die Frage ist: Ist die Schweiz politisch und wirtschaftlich eine Insel und völlig unabhĂ€ngig, wie das die einen sehen und erreichen wollen, oder können wir uns der europĂ€ischen Entwicklung, den Normen, Gesetzen, dem Honorardruck und so weiter nicht entziehen und mĂŒssen uns entsprechend anpassen? Im Moment leben wir noch in beiden ,RealitĂ€ten‘. Die international oder gar weltweit tĂ€tigen Firmen mussten sich lĂ€ngst an die entsprechenden Standards einer globalisierten Architekturwelt anpassen. Die sogenannten Stararchitekten proïŹtieren dabei vielleicht von den Vorteilen ihrer Reputation, die als internationale Marke einen besonderen Status hat. Aber bei der Mehrheit der Projekte und neuen Anfragen laufen Vergabewesen, Wettbewerbe und Management schon jetzt nach europĂ€ischen Normen ab. In der Schweiz gibt es aber immer noch einen Sonderfall: Es gibt mehr Staat, der korrekte Wettbewerbe ausschreibt, sie mit gerechten Jurys ausstattet und die AuftrĂ€ge breit streut, sodass auch immer wieder Junge zum Zug kommen. Das ist wichtig fĂŒr die Kultur der Architektur und ein Grund, weshalb die Schweiz so viele gute Architekten hervorbringt. Es ist aber auch wichtig, dass die jungen Architekten lernen, ihre QualitĂ€ten in einem europĂ€ischen und globalen Vergleich auszuspielen und sich nicht mit der Schweizer Szene zufriedengeben, weil es hier so bequem ist und man sehr leicht ein eigenes kleines BĂŒro eröffnen kann. Das klingt zwar wie eine Belehrung, dennoch graut mir manchmal vor der Architekturszene der Schweiz, die, wie gesagt, zwar gute Leute hervorbringt, aber insgesamt unglaublich hermetisch und besserwisserisch rĂŒberkommt.

JCB: Ihr habt immer wieder auf verschiedene Vorbilder verwiesen wie Aldo Rossi und Robert Venturi, zugleich aber betont, dass ihr als junge Architekten alles anders umsetzen wolltet als eure VorgĂ€nger. Auch Spuren von Modernisten wie Mies van der Rohe oder – in der Kunst – des Minimalismus, also die PrĂ€zision dieser Richtungen, wĂ€ren als Referenzpunkte zu nennen. Gab es nicht auch andere Bezugspunkte?

JH: Rossi und Venturi sind diejenigen, welche uns zu Studienzeiten am stĂ€rksten prĂ€gten. Sie standen damals fĂŒr etwas Neues, das der Moderne etwas entgegensetzte, etwas Ambivalentes, etwas AlltĂ€gliches; etwas, das nicht so abstrakt und modellhaft war, wie die Moderne es einforderte. Sehr bald, schon zu Studienzeiten, hatte fĂŒr uns jedoch die bildende Kunst eine noch viel stĂ€rkere Anziehungskraft. Ich persönlich setzte mich viel stĂ€rker mit Kunst und KĂŒnstlern auseinander als mit Architektur. Weshalb? Die starke Anziehungskraft, welche die damaligen Freunde in der Basler Szene, Helmut Federle, Martin Disler, RĂ©my Zaugg, auf uns ausĂŒbten, ihr persönliches Engagement, ihre – verglichen mit der Geborgenheit des Architekten – viel radikalere Ausgesetztheit forderte uns heraus. Wir merkten, dass es keine Rezepte, keine Traditionen, keine Ideologien mehr gab, die man fĂŒr die eigene Arbeit heranziehen konnte. Alles hatte ausgedient, und das ist bis heute so geblieben. Was sich aber, verglichen zu damals, geĂ€ndert hat, ist, dass sich in der Schweiz und an anderen Orten eine Architekturszene gebildet hat, die sich gegenseitig stĂŒtzt und es eine Art unausgesprochenen, nicht explizit formulierten, aber umso stĂ€rker in der Praxis gelebten Konsens darĂŒber, was gute Architektur ist. Wenn man sich Schweizer Publikationen anschaut oder die Wochenendbeilagen, kann man erkennen, wie Ă€hnlich die Projekte verschiedener Schweizer Autoren geworden sind, wie immergleich die Volumina, die Fenster, die grossen Formate, die Materialien. Es gibt kaum etwas wirklich Schlechtes und noch seltener etwas, das diese UniformitĂ€t wenigstens infrage stellt. Die Schweizer Architektur ist heute wieder sehr viel schweizerischer, homogener, hermetischer, folkloristischer geworden – vielleicht wie zur Zeit der Landi? – als es ihre Protagonisten erkennen und wahrhaben wollen. Ich sage dies nicht als Kritik an den Architekten; das beschĂ€ftigt uns gar nicht so sehr. Vielmehr beschĂ€ftigt uns der damit einhergehende Einheitsbrei, mit dem die Schweizer Bauzonen aufgefĂŒllt werden. Die heutige Schweizer Architektur ist eine Art ,Pseudomoderne‘, welche im Verzicht auf Spielerisches, Individuelles, Experimentelles, Radikales eine moralische Legitimation zu erkennen glaubt, ohne die wirklich interessante Seite der Moderne, nĂ€mlich die kritische Vision einer neuen Gesellschaft, mitzudenken. Wir aber meinen, dass es nun Zeit wird, genau dies wieder verstĂ€rkt anzustreben.

HA: Du sagst, ihr seid aufgewachsen in einer Zeit der Abkehr von der Moderne. Es gab ein klares Konzept dagegen und es gab besagte Anregungen. Die letzten Jahre sind hingegen von einem Laissez-faire geprĂ€gt. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Tendenz, die aber auch die Architektur prĂ€gt. Dort, wo frĂŒher KonïŹ‚ikte ausgetragen wurden, gibt es eine heterogene Koexistenz, die niemanden stört.

JH: In dieser UniformitĂ€t erkenne ich eine Tendenz der Architekten, den Status quo zu respektieren und zu erhalten, und einen Konsens darĂŒber, was Architektur ist und was sie leisten kann fĂŒr unsere Gesellschaft. Das ist Ausdruck eines dekorativen VerstĂ€ndnisses von Architektur, auch wenn es sich in einer dezenten modernistischen Sprache ausdrĂŒckt. Es steht im Gegensatz zu einem politischen VerstĂ€ndnis, wie wir es anstreben und wie wir es mit der Publikation „Die Schweiz. Ein stĂ€dtebauliches PortrĂ€t“ des ETH Studio Basel angestossen haben. Wir denken derzeit, dass Überlegungen, wo, wie dicht, wie viel und wie aufs ganze Land verteilt gebaut werden kann und soll, wichtigere Fragen sind als diejenigen, die das einzelne Objekt betreffen. Es gab aber seit jeher unterschiedliche Modelle, Architektur zu leben und einzufordern. Man denke an die Moderne in der Schweiz, wo es einerseits die radikalen, stark politisierten Figuren aus Basel gab wie Hans Bernoulli, Hannes Meyer oder Hans Schmidt, die einen extremen Minimalismus mit einer sozialen Utopie verbanden und Objekte von kristalliner Schönheit schufen. Andererseits die bourgeoisen Architekten aus dem ZĂŒrcher oder Innerschweizer Umfeld wie Haefeli Moser Steiger oder Armin Meili, die einer gefĂ€lligen, dekorativen Architektur zugeneigt waren.

JCB: Es geht also letztlich um die Haltung. Wie sieht das in diesem Zusammenhang mit den jungen Architekten aus? Was hĂ€ltst du von den jĂŒngeren Tendenzen?

JH: Die Frage ist, inwiefern man Architektur dazu benutzt, einfach etwas zu produzieren – oder aber um etwas zu verstehen, zum Beispiel die Gesellschaft – und inwieweit sich dadurch die eigene Arbeit verĂ€ndert. Diese Frage beschĂ€ftigt uns im Moment sehr, aber wir haben keine vernĂŒnftige Antwort darauf. Das bringt uns wieder auf die oben erwĂ€hnten Muster: Man kann ein Volk und dessen Lebensweise nicht einfach verĂ€ndern. In der Schweiz gibt es nun einmal dieses Halburbane; die Architektur, die weder gut noch schlecht ist, die weder stĂ€dtisch noch lĂ€ndlich und dennoch gut an den öffentlichen Transport angeschlossen ist, wo es immer etwas GrĂŒn gibt, aber nie ĂŒppig und viel, wo es immer ein wenig Wasser in Form eines Flusses, Bachs oder Sees gibt. Solange die meisten Menschen so leben können und es nicht plötzlich zu dicht und zu eng wird in den Quartieren, den Trams und S-Bahnen, ist es unmöglich, das zu Ă€ndern. Und die Autorenarchitekten, ob jung oder alt, fĂŒgen da und dort in diesen Brei ein paar Bauten ein, die meistens etwas besser sind als die grosse Masse der anonymeren Architekturen. Aber wie viel besser wird es wirklich? LĂ€sst sich dieser Mehrwert auf Dauer rechtfertigen, ohne dass die Autoren auch zu Autoren einer umfassenden Erneuerung der urbanistischen und ökologischen Bedingungen in unserem Land werden?

JCB: Eure Generation hat viel theoretisiert, hat Diskurse gefĂŒhrt und neue Wege eingeschlagen. Gibt es das bei der heutigen Generation noch, oder hat das Laisser-faire Vorrang?

JH: Ihr Journalisten und Architekturkritiker könnt diese Frage bestimmt viel besser beantworten; ihr habt mehr Übersicht ĂŒber die Szene. Es gibt aber bestimmt in jeder Generation ein paar herausragende Figuren.

HA: Es gibt zweifelllos einige. Aber es ist schon lange kein Buch mehr erschienen, das die Bedeutung von Rem Koolhaas’ „S,M,L,XL“ gehabt hat. Theoretisch stagniert es im Moment, und hierzulande können manche Architekten schon in jungen Jahren schnell und viel bauen, weil die wirtschaftliche Situation es zulĂ€sst. Zugleich fĂŒhrt das aber zu einem Verebben von KreativitĂ€t, weil oftmals nur die Muster kopiert werden, die man kennt.

JH: Die letzten einïŹ‚ussreichen Publikationen sind sogar noch viel Ă€lter. Es sind „L’Archittetura della città“ von Aldo Rossi und „Complexity and Contradiction“ von Robert Venturi und Denise Scott Brown. Beides waren Analysen von speziïŹschen urbanen Konditionen – der italienischen Stadt, welche Rossi mit einem poetisch-nostalgischen Impetus beschwor und Venturis Las Vegas, welches die Pop-Art in die Architektur einfĂŒhrte. Ich sehe alle spĂ€teren wichtigen ArchitekturbĂŒcher wie Koolhaas’ Publikationen eher als brillante journalistische BeitrĂ€ge. Es sind keine nachhaltigen LehrbĂŒcher oder Handlungsanweisungen, wie sie Rossi, Venturi oder noch frĂŒher und noch expliziter Le Corbusier oder Adolf Loos beabsichtigten. Die theoretischen Arbeiten meiner Generation bestehen eher aus einzelnen AufsĂ€tzen oder Pamphleten; selten werden umfassende Werke wie das erwĂ€hnte PortrĂ€t der Schweiz publiziert. Das wirksamste und nachhaltigste kommunikative Tool der Architektur ist nach wie vor die Architektur selbst, jedes einzelne Werk. Das heisst, die oben erwĂ€hnte und geforderte politische, urbanistische und ökologische Dimension der Architektur muss im Werk selbst ausgedrĂŒckt sein. Es gibt nichts ausserhalb – keine BegrĂŒndung, kein Buch, keine ErklĂ€rung. Darin hat sich nichts geĂ€ndert in der Architektur, seit es sie gibt.

JCB: In anderen LĂ€ndern gehen StĂ€dtebaudiskurse immer von der zumeist fehlenden oder schlechten Infrastruktur aus. Hierzulande spricht man, wenn es um StĂ€dtebau geht, ĂŒber die Bauzonen oder deren Verdichtung. Ihr habt mit dem Studio Basel das Thema der VerstĂ€dterung der Schweiz wieder ins Bewusstsein gerĂŒckt, und mittlerweile wird in den PlanungsĂ€mtern in der Region und den StĂ€dten verstĂ€rkt eine urbanere Verdichtung geplant. Ist das ein Thema, das euch noch interessiert?

JH: Ja, klar. Eben haben Marcel Meili und ich mit dem ZĂŒrcher Tages-Anzeiger ein lĂ€ngeres GesprĂ€ch zu diesen Fragen gefĂŒhrt, eine Art Standortbestimmung seit dem Erscheinen von „Die Schweiz. Ein stĂ€dtebauliches Portrait“. Man kann schon verdichten; das geht aber nur in einem Land, das ein urbanes Bewusstsein hat, in welchem man auch etwas zusammengedrĂ€ngter noch eine QualitĂ€t sieht und diese auch leben kann. Eigentlich bewegt sich die Schweiz auf eine Art ,Stadt Schweiz‘ zu, denn die Agglomerationen berĂŒhren sich inzwischen. Beispiel: die MetropolitanrĂ€ume Basel und ZĂŒrich mit der Schnittmenge Aargau. Was ist jetzt die Vision, nach der die zukĂŒnftigen Bebauungen sich ausrichten sollen? Die heutigen ZonenplĂ€ne geben dazu nur unbefriedigende Antworten, welche die AlltagsrealitĂ€ten nicht abbilden. Verdichtungen innerhalb der bisherigen Zentren bestĂ€tigen die IdentitĂ€t und die Abgrenzung von einer Stadt gegenĂŒber der anderen. Was wĂ€ren Alternativen? Verdichtung entlang von Pendlerströmen, verdichten vormals eher lĂ€ndlicher oder dörïŹ‚icher Gebiete? Was will der Schweizer BĂŒrger? Wer erklĂ€rt ihm, was sinnvoll und möglich ist? Es gibt ĂŒberaus divergierende KrĂ€fte zwischen WĂŒnschenswertem, Sinnvollem, Machbarem, Notwendigem – und niemand weiss, wie alle diese KrĂ€fte fruchtbar gemacht werden können. Wir dachten schon einmal darĂŒber nach, ob ein regelmĂ€ssig stattïŹndendes Fernsehformat, vergleichbar mit der „Arena“ im Schweizer Fernsehen, die öffentliche Diskussion und das Bewusststein fĂŒr solche Fragen anregen könnte.

JCB: Es ist wahrscheinlich nicht möglich, der Zersiedelung der Schweiz entgegenzuwirken. Da ist es wohl pragmatischer – wie du es beschreibst – die QualitĂ€ten in dieser Mischung aus Stadt und Land zu ïŹnden. Wirkliche UrbanitĂ€t gibt es hierzulande sowieso nicht.

JH: TatsĂ€chlich wird wohl einfach irgendwie aufgefĂŒllt. Dann gibt es mal einen Wettbewerb in einer Gemeinde, die nicht mehr wirklich lĂ€ndlich ist, weil sie schon 25’000 Einwohner hat, und man erstellt – wie beispielsweise in Oerlikon – einen Platz, der ein bisschen stĂ€dtisch aussieht und mit der Zeit wird das dann ein Quartier der Stadt. Das war schon bei den mittelalterlichen VorstĂ€dten so, und es hat sich bis heute bei uns wenig verĂ€ndert. Es gibt kaum von Grund auf geplante Stadtquartiere, mit Ausnahme derjenigen aus der GrĂŒnderzeit. Die Transformation von Industriebrachen ist meistens eher ein Dazubauen und Anpassen als eine Tabula rasa. Das ist nichts Schlechtes; es ist eine Reaktion auf die teilweise rĂŒcksichtslosen Eingriffe der Moderne in die Altstadt und das Dorf, aber es ist eben auch Ausdruck einer fehlenden Vision, wie eine Stadt oder ein StĂ€dte-Land wie die Schweiz in Zukunft funktionieren kann.

JCB: Es gibt eine Ambivalenz in stadtnahen Regionen; man will sich offenbar nicht zur Stadt bekennen. Auch bei den jungen Architekten ïŹndet man bei der Gestaltung von Aussenbezirken, die in wenigen Jahren mitten in der Stadt liegen werden, keine stĂ€dtischen Strukturen. Warum fĂ€llt es in der Schweiz so schwer, grossstĂ€dtische Muster umzusetzen?

JH: Das gefĂ€llt den Leuten halt nicht – und den Architekten vielleicht auch nicht. Die Architekten in der Schweiz, aber auch anderswo, entwerfen keine Vision, die radikal verĂ€ndern will. Die Architektur erscheint mir heute ohnmĂ€chtig – ohnmĂ€chtiger denn je.

HA: Du hast von der Notwendigkeit einer radikalen Perspektive gesprochen, die sich fĂŒr euch nicht nur aufgrund der Erkenntnisse des Studio Basel entwickelt hat, sondern auch angesichts der momentanen Situation auf der Welt notwendig sei. Einige Punkte hast du schon genannt, aber es gibt sicherlich noch mehr von dem, was man eine neue Agenda nennen könnte.

JH: Die Themen Nachhaltigkeit, Ressourcen, Energie liegen heute auf jedem Tisch. Wir beschĂ€ftigen uns auch mit Fragen der co2-freien Stadt und fragen uns, welchen Beitrag Architektur darin leisten kann. Anstatt die StĂ€dte radikal neu zu bauen, werden wohl eher ErïŹndungen wie Solarzellen kommen, die man nach dem jeweiligen Sonnenstand ausrichten kann, um mehr Strom zu sammeln. Vielleicht gibt es parallel aber auch radikalere Entwicklungen, indem Teile unserer Stadt wirklich neue Gesichtspunkte aus dem 21. Jahrhundert umsetzen. Das geht meines Erachtens nur ĂŒber die Infrastruktur. Nur ĂŒber Dinge, die wir schmerzhaft lernen mĂŒssen, gibt es radikale VerĂ€nderungen. Wir sehen das jetzt mit der AKW-Diskussion: Wir wussten schon vor der Katastrophe in Japan, dass es nicht möglich ist, die Welt mittels Atomkraft zu versorgen, weil die Endlagerung ĂŒber tausende von Jahren nicht gesichert ist. Aber nur, wenn das Messer am Hals ist und die Kehle schon halb durchgeschnitten, gibt es ein Umdenken – dann gibt es ein panisches Reagieren. Aber so ist die Welt und so ist wohl die menschliche Natur: eher reaktiv als aktiv. Und deshalb sehen die StĂ€dte so aus, wie sie aussehen – weil der Druck nicht gross genug ist, etwas zu Ă€ndern. Aber wir, die getrieben sind vom Gedanken, in der Welt etwas zu verĂ€ndern, weil wir ein bisschen frĂŒher erkennen, was andere vielleicht nicht sehen, sollten versuchen, etwas zu bewegen. Das sind dann die Bauteile von möglichen VerĂ€nderungen – wir haben keine Rezepte, die direkt umgesetzt werden können. Das Buch ĂŒber die Metropolitanregionen und die dazwischenliegenden GrĂŒnrĂ€ume, das wir mit dem Studio Basel ĂŒber die Schweiz gemacht haben, wurde von der eidgenössischen Raumplanung aufgenommen. Aber es handelt sich nicht um eine genaue und scharfe Formulierung, die in der Schweiz bekanntlich schwierig ist. Andererseits – und da sind wir bereits beim ‚Aber‘ – ist das wieder ein Teil des Erfolges der Schweiz.

JCB: Das Thema beschĂ€ftigt euch, das spĂŒrt man – aber konkret gefragt: KonïŹ‚ikte wie zurzeit der zwischen Nullenergie oder MINERGIE – beschĂ€ftigt sich euer BĂŒro damit oder seid ihr der Meinung, das mĂŒssen Techniker lösen? Gleichwohl seid ihr bekannt dafĂŒr, dass ihr sehr viele Recherchen betreibt.

JH: Das ist eine sehr gute Frage. Wir entwickeln natĂŒrlich keine neuen Sonnenkollektoren oder Isolierungen. Es gibt strenge Gesetze und AuïŹ‚agen in der Schweiz; die mĂŒssen wir respektieren. Konkret haben wir versucht, autonome HĂ€user zu entwickeln, die Selbstversorger sind. Meistens scheitern diese Versuche, weil es lediglich Rezepte sind, die von den Bauherren akzeptiert werden – oder eben nicht. Es sind AnnĂ€herungen an mögliche IdealzustĂ€nde. Uns interessieren Fragen der Nachhaltigkeit eher im Kontext der StĂ€dteplanung oder eines ganzen Landes. Im nĂ€chsten Semester wollen wir uns im Studio Basel diesen Fragen widmen. Wir wollen ein Layout zum Stand der Dinge entwickeln, denn kaum jemand weiss, wo wir zurzeit eigentlich stehen. Das gilt fĂŒr die Ebene des Einzelobjekts, aber auch der Regionen und der StĂ€dte. Besonders interessiert uns die Frage des Wassers und der Nahrungsproduktion bis hin zum Abfall.

HA: Ich möchte noch einmal auf die Forderung der Radikalisierung zurĂŒckkommen. Auch international ist das Sensorium fĂŒr gesellschaftliche VerĂ€nderung beim Beruf des Architekten eher in den Hintergrund getreten. Allerdings nicht nur bei den Architekten. Vielleicht liegt hierin das Problem.

JH: Das ist schon so. In der Achtundsechzigerzeit, in der wir gross geworden sind und studiert haben, gab es die gesellschaftliche Revolution. Der Umbruch von der Moderne zur Nachmoderne oder Postmoderne, die Kritik an der Gesellschaft waren fundamental. Das hat uns geprĂ€gt, und wir haben umgekehrt diese Zeit geprĂ€gt. Heute leben wir in einer anderen Zeit, in der uns nichts aufgezwungen wird. Das prĂ€gt die jĂŒngere Generation, die nicht in gleichem Mass politisiert ist. Und politisiert sein heisst auch, alles infrage zu stellen. Architektur ist ja nur ein Instrument, um unsere Gesellschaft zu formen und den Menschen in unserer Zeit die Möglichkeit zu geben, sich in irgendeiner Form auszudrĂŒcken und privat wie öffentlich in einer bestimmten Weise zu leben. Das heisst auch, dass der öffentliche Raum dann dem entspricht: Er kann offen oder hermetisch sein. Ein Beispiel: Die allen zugĂ€ngliche Turbinenhalle der Tate Modern ist ein Beitrag bezĂŒglich der Idee des öffentlichen Raums. Das ist ĂŒberhaupt das Spannendste an der Tate. Wir haben das dort gelernt und könnten es an anderen Orten, auch in der Schweiz, anwenden. Architektur ist ein GefĂ€ss fĂŒr die Menschen einer Gesellschaft. Das ist fundamental fĂŒr unser VerstĂ€ndnis von Architektur und Stadt. Man kann den Zustand einer Gesellschaft auch historisch so verstehen, wie sehr die Architektur produktiv diese Öffentlichkeit suchte oder nicht. Schon frĂŒher sagten wir: Architektur ist ein Wahrnehmungsgegenstand der Welt, aber auch der Gesellschaft.

JCB: Wir erleben also einen Jacques Herzog, der noch genauso radikal ist wie am Anfang seiner Laufbahn. Es gibt aber auch einen, der sich nach dieser langen Zeit anderen Themen wie der plastischen Architektur oder dem Naturbezug widmen will und den Alltagsprobleme nicht mehr so interessieren. SpĂŒre ich da eine gewisse Altersweisheit?

JH: Nein, das ist ein MissverstĂ€ndnis. Ein neugieriger Mensch bleibt ein neugieriger Mensch – ob das nun ein Vorteil ist oder nicht. Wir – die Generation der Achtundsechziger – stehen in einer Tradition der AufklĂ€rung. Wir leben aber jetzt in einer Zeit, in der Ideologien zunehmend auf dem Vormarsch sind, in einer antiaufklĂ€rerischen Zeit also. Ist das die Zukunft der Welt? Wird die Welt in eine neue Phase der Abschottung, der Nationalisierung, der Ideologisierung eintreten, als paradoxes Gegenspiel zur fortgeschrittenen Globalisierung? Das wĂŒrde eine neue Architektur einfordern oder die Autorenarchitektur zu einer Art ‚Parallelarchitektur‘ verkommen lassen, was sie bis zu einem gewissen Grad schon heute ist.

JCB: In der arabischen Welt gab es keine AufklÀrung und es stellt sich aktuell die Frage, ob dieser Prozess nachgeholt werden kann.

JH: Ganz genau, das ist eine der zentralen Fragen.

JCB: Oder ob durch die Migration der Islamismus zu uns kommt und unsere abendlĂ€ndische Struktur ‚korrigiert‘ wird. Die Frage ist: Wer wird gewinnen?

JH: Wir sollten nicht von unserer Form von Demokratie als einzige mögliche Demokratieform ausgehen. Eine Revolution, wie sie seit 2011 in Nordafrika im Gang ist und vielleicht zu einer AufklĂ€rung innerhalb der eigenen Gesellschaft fĂŒhrt, ist wesentlich interessanter. Im Christentum hat die Reformation unglaublich viele Werte zerstört. Ich bin als Protestant aufgewachsen und habe das erst spĂ€ter als Kunst- und Architekturinteressierter in der ganzen Tragweite realisiert. Allein in Basel wurden ganze Kirchen, Klöster und MĂŒnster zusammengeschlagen. Das war offenbar nötig, um etwas Neues zu erreichen – um an einen wirklich neuen Ausgangspunkt einer Gesellschaft zu gelangen, die sich ĂŒberlebt hatte und sich aus den etablierten Machtstrukturen heraus nicht erneuern konnte. Da sind wir wieder bei der radikalen Perspektive. Vielleicht muss alles kaputtgehen. Wir werden es in dem Zeitgeist, in dem wir uns heute bewegen, nicht schaffen, diese seichte, trĂ€ge, beliebige, aber erfolgreiche MittelmĂ€ssigkeit in der Schweiz zu ĂŒberwinden. Wir erinnern uns: Durch die VerĂ€nderung des Protestantismus wurde die TĂŒr geöffnet fĂŒr die Industrialisierung; es kamen die Hugenotten in die Schweiz, die die SeidenfĂ€rberei und schliesslich die Pharmaindustrie nach Basel brachten und in Genf und im Jura die Uhrenindustrie ansiedelten. Ein grosser Teil der Industrialisierung, auch in Deutschland und England, wĂ€re ohne den Protestantismus nicht möglich gewesen. Das sieht man an den katholischen LĂ€ndern, in denen keine solche Entwicklung stattfand. Das ist noch nach fĂŒnfhundert Jahren eine gesellschaftliche RealitĂ€t und wirkt heute noch als KonïŹ‚ikt nach, der in der EU fĂŒr Spannungen zwischen den LĂ€ndern des Nordens und SĂŒdens sorgt. Auch wenn es der Schweiz jetzt gut geht, brauchen wir einen stĂ€ndigen Aufbruch.

JCB: Das wÀre ein schönes Schlusswort.

JH: Ich habe mich schon hĂ€uïŹg mit euch beiden unterhalten und fand es immer interessant, architekturrelevante Fragen zu behandeln; meistens geht es am besten mit Bezug auf ein konkretes Objekt. Wenn man sich aber diese ĂŒbergeordneten Fragen nicht stellt, wird letztlich jedes Objekt langweilig.

JCB: Zum Abschluss möchte ich dennoch eine objektbezogene Frage stellen, die mich als Hamburger besonders interessiert. Wie steht es mit der Elbphilharmonie – weshalb gibt es nach dem fulminanten Start in dieser nicht gerade architekturafïŹnen Stadt nun Auseinandersetzungen?

JH: Es sind komplexe, politische und vertragliche Konstellationen, die zu dieser Situation gefĂŒhrt haben. Wir mĂŒssen uns mit diversen AnwĂ€lten darum bemĂŒhen, dass alles immer korrekt dargestellt wird und uns nicht Dinge angelastet werden, die wir nicht zu verantworten haben. Das wĂŒnsche ich keinem Architekten. Es ist heute aber leider eine RealitĂ€t bei so grossen öffentlichen Projekten – nicht nur in Hamburg, aber dort besonders ausgeprĂ€gt. Wir mĂŒssen da durch, sind aber zuversichtlich, auf gutem Wege zu sein. FĂŒr uns ist jetzt besonders wichtig, dass es so grossartig wird, wie wir es uns immer vorgestellt haben. Es wird ein wunderbares Bauwerk; die RĂ€ume sind fantastisch, und am Schluss ist nur das entscheidend. Das GebĂ€ude wird lange bestehen und soll allen Hamburgern und auswĂ€rtigen GĂ€sten grosse Freude bereiten.

JCB: Du hast mehrfach im Zusammenhang mit dem Hamburger Projekt auf die Philharmonie von Hans Scharoun in Berlin [1963] verwiesen. Geht es da um rÀumliche oder eher formale Analogien?

JH: Wenn es Scharoun nicht gĂ€be, gĂ€be es wohl auch das Dach der Elbphilharmonie in seiner jetzigen Art nicht. In Hamburg ist die Dachform das Resultat der statischen Anforderungen an die Überdeckung von verschiedenen grossen RĂ€umen, die wir gleichsam aufhĂ€ngen wollten. Im Innenraum haben wir uns jedoch explizit nicht auf Scharoun bezogen. Viele haben seine Philharmonie als Vorbild genommen – Frank Gehry und andere. Aber das funktioniert unserer Meinung nach nicht, weil die Philharmonie kein Modell ist. Sie ist die erste und perfekteste Form, um ein Musik- und RaumempïŹnden umzusetzen. Das kann man nicht nachmachen, steigern oder interpretieren. Wir haben uns bewusst griechische Typologien angeschaut. Wir haben die VertikalitĂ€t des Stadions genommen, die sich auch in der MailĂ€nder Scala ïŹnden lĂ€sst und sich wie eine Wand aufbaut. Aber natĂŒrlich gehen freie Sitzordnungen immer auf Scharoun zurĂŒck. Wir haben aber nicht seine ‚Weinberge‘ adaptiert; es ist vielmehr eine Balkonarchitektur, aber nicht in einer Guggenheim’schen Drehbewegung, sodass es nicht so eine Dynamik erhĂ€lt.