Herzog & de Meuron

Träume im Siedlungsbrei Die Schweiz ist erfolgreich.

Sie hat eine starke Währung, starke Zuwanderung und starke globale Firmen. Bei den Rankings, die unsere Zeit bestimmen, ist sie immer vorn dabei. Also macht sie alles richtig?

Nein, wir können nicht zufrieden sein. Die Schweiz zerstört eine der wesentlichen Grundlagen ihres Erfolges: die Landschaft. Es gibt fast keinen Ort mehr im Land, der nicht irgendwie bebaut ist. Aber die Schweiz ist nicht urban, sie ist ländlich in ihrer mentalen Ausrichtung. Die Gemeinde ist die Ultima Ratio dieser antiurbanen Haltung, welche Verdichtung, Konzentration, Grösse und Höhe negiert. Sie ist eine ideologische Urzelle des Föderalismus. Die Gemeinde ist die DNA der Schweiz.

In der heutigen Schweiz, in diesem „all over“ vor allem des Mittellandes, sehen wir ein Ideal der modernen Stadt verwirklicht, wie es in den fünfziger Jahren beschrieben wurde. Das befähigt uns, die bestehende urbane Landschaft zu verstehen und zu akzeptieren, zugleich aber auch Fragen nach Visionen, nach zukünftigen Szenarien und Strategien aufzuwerfen.

Was wären wünschenswerte Visionen für eine urbane Schweiz? Basel liegt am Rhein und Zürich am See. Das scheint banalste Wirklichkeit zu sein. Dennoch ist es nie in die Planungswirklichkeit eingeflossen. Erst jetzt haben die Architekten Marcel Meili und Roger Diener im Auftrag der Handelskammer eine Studie für Zürich erarbeitet, welche die Stadt in einer neuen Beziehung zum See definiert. Was wir unter Zürich verstehen, das ist vor allem, was um diesen See herum geschieht. Allerdings haben dort in Tat und Wahrheit diverse Gemeinden und andere Kantone das Sagen, was es erschwert, das Potenzial eines metropolitanen Zürich im Seeraum zu entwickeln.

In Basel haben wir das gleiche Problem. Die Postkartenbilder mit dem Münster besagen zwar, Basel sei ein Ort am Rhein. Aber so wie Zürich im unteren Teil des Sees sehr schnell ländlich wird, meidet Basel oberhalb wie unterhalb eines zentral gelegenen, kurzen Abschnitts den Fluss, als sei der Rhein nur der Kernstadt zugehörig. Schon die nächstgelegenen Gemeinden bauen bloß noch Industrieanlagen an den Rhein; offenbar gibt es kein Bewusstsein für diesen gemeinsamen Ort. Würde Basel endlich am Fluss ankommen, so wäre es eine radikal andere, viel interessantere Stadt mit sehr attraktiven Wohnlagen am Wasser. Allgemein herrscht eine eigentliche Scheu, Gegebenheiten der Natur wie einen Fluss oder eine Seegegend zu umarmen und der Idee der Stadt einzuverleiben.

Tatsache ist auch, dass die Schweiz kein Bild von sich hat. Der Sonnenkönig benutzte die Stadt, um ein Bild von sich in die Welt zu setzen. Sich ein Bild zu machen ist im Grunde etwas unverschämt Arrogantes. Die Schweizer identifizieren sich eher mit Bildern der Natur und einer Unberührtheit, die in Wirklichkeit längst nicht mehr besteht. Nehmen Sie nur das Standardbild von Zürich mit See und den Bergen im Hintergrund: Dieses Zusammenfallen wurde den Schweizern geschenkt; niemand hat dies als Vision entworfen. Wir bekamen es sozusagen gratis.

Langsam lässt sich jedoch feststellen, dass sich die Politik auf unsere Bilder und Vorschläge einlässt. Wenn man heute einen Raum als metropolitane Region begreift, kommt nicht mehr der Entrüstungssturm aus den Gemeinden, der früher so sicher war wie das Amen in der Kirche. So stiessen Ideen einer urbanen Gestaltung des Raums auf der Kleinbasler Seite des Hafens – ja einer „Manhattisierung“ dieses Ortes am Fluss – auf Anerkennung. Natürlich gibt es Gegenbewegungen, etwa in Form einer Initiative von Schrebergärtnern, die den Bestand sämtlicher Schrebergärten der Stadt quasi einfrieren möchten. Aber es gibt auch Hoffnung, dass man dieser Initiative eine glaubwürdige Alternative entgegenhalten kann.

Der Fall führt zurück zur Ausgangsfrage: Wie kann eine Schweiz erfolgreich sein, wenn einerseits alles zugebaut wird – aber andererseits die wirklich interessanten und zentral gelegenen Orte durch Initiativen und Abstimmungen blockiert werden?

Im Rahmen der Studie „Metrobasel“ des ETH Studio Basel entstand zum Beispiel die radikale Idee einer Seenlandschaft im Norden der Stadt, in einer Region, wo Kies abgebaut wird. Würde man diesen Abbau konzentrieren und als strategisches Instrument einsetzen, so entstünde hier eine Landschaft aus Seen, wie sie nirgends sonst existiert. Es wäre eine Landschaft, die mit der Urlandschaft am Rhein sogar eine Verwandtschaft hätte, zugleich aber eine Möglichkeit eröffnen würde, eine landschaftlich attraktive metropolitane Stadt des 21. Jahrhunderts zu schaffen.

Doch solche Ideen werfen die Frage auf, wie sie in unserer politischen Situation umgesetzt werden könnten. Durch den Föderalismus lässt sich die Schweiz zwar nicht daran hindern, erfolgreich zu sein; aber es hapert zumindest mit der raschen Umsetzung solcher Visionen. Oder ist das, was wir Vision nennen, nur der Unfug von ein paar intellektuellen Weltverbesserern? Gibt es ein spezifisches Trägheitsmoment, welches das Schweiz-Sein auf Kurs hält und das Land mit einem urbanen Radikalismus verschont?

Interessante Vergleiche damit lassen sich in zahlreichen Städten machen, die wir ebenfalls am ETH-Studio in Basel untersuchten – etwa in Neapel, Casablanca, Nairobi oder Kalkutta, wo ein massgeblicher Teil der Urbanisierung durch eine Art informelle Planung geschieht; also ohne von außen vorgegebene oder von oben bestimmte Planungsmodelle. Was dabei entsteht, ist nicht immer besonders schön, aber es ist sicher nicht hässlich oder falsch. Zumindest ist es ein sehr direkter Ausdruck des Lebens der Menschen vor Ort, gerade in dieser scheinbaren Unordnung. Und es ist etwas ganz anderes, als wir es im Schweizer Mittelland finden: In den dortigen Agglomerationsgemeinden drückt die scheinbare Unordnung eher die Abwesenheit von Leben aus – oder zumindest die Abwesenheit von gemeinschaftlich gestaltetem Leben. Der Siedlungsbrei ist vielmehr Ausdruck von Abgrenzung, Neid und Misstrauen.

Wenn wir beispielsweise Kibera bei Nairobi nehmen, einen der grössten Slums von Afrika mit etwa einer Million Bewohner: Dort finden wir erstaunliche Formen von Organisation, natürlich von „Bottom-up“-Organisation. Damit sollen die vielen Missstände gar nicht schöngeredet werden, aber wenn wir von Stadt reden, ist es wichtig, dass wir die Schweiz stets konfrontieren mit Modellen, die ganz anders funktionieren. Das hilft, unsere Situation besser zu verstehen. Und solche Beispiele können zeigen, wie sich auch im Chaos von Eigenbau und Eigenregie ein Regulativ entwickeln kann.

Als krasses Gegenstück zu einem Ort wie Kibera gibt es die formelle Stadt, einen Ort, der ganz bewusst gestaltet und von oben herab geplant wurde. Es ist die Umsetzung der Idee einer idealen Stadt, einer Stadt, die das Denken und Träumen eines Herrschers oder einer Oberschicht perfekt ausdrückt. Wir finden diese Idee verwirklicht in römischen Gründungsstädten mit ihrem rechtwinkligen Muster, einzelnen herausragenden Gebäuden und einer militärisch bedingten Ratio. Wir finden die Idee in der Renaissancestadt. Wir finden sie in Paris, wo sich Strassenachsen wie Sonnenstrahlen scheinbar endlos ausdehnen. Paris ist der wahnsinnige Versuch, Schönheit in Stein herzustellen. Oder wir finden die Idee in Manhattan – diesem Ausdruck von Pragmatismus und kapitalistischem Wettrüsten. Manhattan ist so symbolgeladen, so bildhaft, so sehr mit der Macht des Geldes verbunden, dass es zur Zielscheibe werden musste.

All diese Beispiele belegen, dass Visionen und ideale Vorstellungen bei der Produktion von Stadt seit je eine wichtige Rolle spielen, auch wenn sie zwangsläufig scheitern. Sie scheitern, weil die Entwicklung des Menschen und das ständige Fortschreiten der Zeit die Bilder dieser Idealstädte erodieren und transformieren. Was als klare Form gedacht und gebaut war, zerfällt, wird verändert, ergänzt oder neu aufgebaut.

Es entsteht so eine Art Informalisierung der formellen Stadt – wie es umgekehrt auch eine Formalisierung der informellen Stadt gibt, bei der sich chaotische Muster zu einer spezifischen Organisationsform finden, wie in einigen von uns beobachteten Slums. Sodass sich informelle und formelle Urbanisierungskonzepte am Ende berühren oder annähern.

Die Planungsprozesse in der Schweiz sind zwar streng formalisiert, erlangen jedoch nie auch nur annähernd die Bildhaftigkeit der erwähnten Idealstädte. Die Schweiz erscheint eher wie das Resultat einer informellen Planung, jedoch ohne den Charme der kargen Verhältnisse in Drittweltländern. Es ist deshalb wesentlich, dass wir uns darauf besinnen, was die Stärken einer übergreifenden Ordnung sind, einer Ordnung, die dann das Kleinräumige wieder möglich macht. Fehlt diese Ordnung, wird die Qualität der urbanen Landschaft als Ganzes bedroht sein.

Eines der besten Beispiele der letzten Jahre ist die Zürcher S-Bahn, welche der Stadt ein neues Gesicht gab und ihr im Wettbewerb mit europäischen Zentren grosse Vorteile brachte. Basel wird da nachziehen müssen mit der geplanten unterirdischen S-Bahn-Verbindung durch das Herz der Stadt. Dadurch wird endlich ein sichtbares Zeichen gesetzt werden für die Verbundenheit der Menschen in diesem trinationalen Raum. Wenn wir schon keinen Konsens finden, die Städte physisch auszurichten auf übergeordnete Bilder, so lohnt es sich doch, zumindest die Infrastrukturprojekte durchzusetzen. Sie sind meistens nützlich, bildhaft und manchmal sogar bildmächtig. Sie ermöglichen den nachhaltigen Erfolg der Schweiz im Wettbewerb mit anderen Standorten.

Und im Hinblick auf diesen Wettbewerb muss man es in der Schweiz auch wagen, ein Tabu zu brechen, indem man bereit ist, über Orte und Täler zu diskutieren, in die nicht in gleichem Masse investiert wird wie bisher. Dafür braucht es auf der anderen Seite eine Art von Konzentration auf die großen urbanen Zentren der Schweiz. Bei dieser Konzentration geht es allerdings nicht um eine hegemoniale Konzentration auf Zürich, weil dies die Schweiz als Ganzes wiederum schwächt, wie die Krisen der Swissair, der UBS und die fatale Konzentrationspolitik der Medien und des nationalen Fernsehens und Radios uns drastisch vor Augen geführt haben.

Es braucht also einen neuen Föderalismus. Dies wiederum bedingt einen Konflikt mit der unverrückbaren Position, welche die Gemeinde in der Schweiz hat. Hier ist die Entwicklung unglaublich träge: Jeder denkt für sich. Und zum Schweizer Modell gehört auch, dass man sich nicht einmischt. Alle beklagen den Verlust des Kulturlandes, aber keine Gemeinde ist bereit, Räume leer zu lassen und nicht mehr zu bauen auf ihrem Gebiet. Damit so etwas geschieht, bräuchte es eine „Stimme von oben“. Eine Stelle, die beispielsweise bestimmt, wann fertig gebaut ist.

Natürlich gibt es diese Stimme von oben nirgends, schon gar nicht in unserer Schweizer Demokratie. Eine Demokratie ist eine Regierungsform, welche den Willen und die Ideen des Volkes ausdrücken soll. Tut sie das in der Schweiz? Traut das Volk unseren Gemeinderäten, unseren Regierungsräten und Bundesrätinnen, unseren Parteien? Kommen die Fakten vor einer Abstimmung so klar auf den Tisch, dass sich jeder und jede ein freies, nicht von Parteiinteressen manipuliertes Bild machen kann? Nein. Und dennoch entspricht dieses Nichtbild, das sich aus dieser spezifisch schweizerischen Form von demokratischem Nichtregieren ergibt, offenbar dem Ideal, das sich die Menschen hier erträumen.

China ist (auch) erfolgreich – ein wichtiger und stark wachsender Markt, sagen alle – und deshalb interessant. Aber es ist eine Diktatur, missachtet die Menschenrechte, zerstört die Umwelt und verschlingt zu viele Rohstoffe – sagen auch alle, besonders hier im Westen.

In Wirklichkeit verändert sich China mit atemberaubender Geschwindigkeit, baut neue Städte, Flughäfen, Strassen, Stadien, Museen, Universitäten, Forschungsinstitute, Wälder, Seen, ganze Landschaften. China macht sich ein Bild von sich. Es entsteht eine neue Mittelschicht, es entsteht eine neue Schicht von Intellektuellen und Künstlern, die kritisch sind und sich den Mund nicht verbieten lassen. Das heisst, die Gesellschaft verändert sich, und dadurch wird sich auch die Politik verändern. Das Land ist daran, die über Jahrhunderte andauernde kulturelle und wirtschaftliche Blüte der Vergangenheit wiederzuerlangen. Das Wiedererlangen einer solchen Blüte wird natürlich in einer Diktatur nicht gelingen – es wird aber auch nicht in einer Basisdemokratie nach unserem Muster möglich sein.

Dieses Muster ist besonders erfolgreich im defensiven Bereich, beim Abwehren von Neuerungen, aber schwächelt, sobald es darum geht, eine Idee, eine Vision zu entwickeln, oder eben: sich ein Bild zu machen, wer wir sind und in Zukunft sein wollen.