Herzog & de Meuron

Die verborgene Geometrie der Natur

Aus unserer Beschäftigung mit Architektur entstehen Häuser, Pläne, Modelle, Skizzen und Textfragmente. Diese Textfragmente fügen sich zu Textreihen zusammen. Der Titel eines Abschnittes lautet: die verborgene Geometrie der Natur.

Dieser Titel soll Ausdruck einer Annäherung sein, einer Suche nach Erkenntnis, nach Sinnhaftigkeit, einer Suche nach etwas Verborgenem, das in der Natur liegt und in der Natur selbst besteht. Eine Suche, die scheitern muss, sobald ich glaube, meine Geometrie gefunden zu haben.

1. Die Tradition und das Bild der Tradition

Ich bin Architekt. Bevor ich dies wurde, bin ich während so vieler Jahre in die Schule gegangen, dass ich lernte – und mich wohl auch in der Richtung veränderte –, alles mit dem Kopf zu tun. Vom Kopf geht es hinunter in die Hände, die den Plan für die Handwerker zeichnen. Zuvor habe ich das gezeichnete, handwerkliche Detail irgendwo in der gebauten Welt abgeschaut; vielleicht habe ich es auch in einem Film gesehen oder in einer Abbildung.

Wenn ich das Detail, meine Zeichnung davon, dem Handwerker zeige, merke ich, dass die reale Welt sich seit meiner Beobachtung so weit verändert hat, dass der Handwerker das Detail nicht mehr versteht. Die Bautechnologie hat ihm ein anderes, vermeintlich besseres Detail angeboten – und er hat es genommen, weil er daran glaubt, dass sich solche Dinge verändern müssen, da sie einer Entwicklung unterliegen, die einem Fortschritt gleichgesetzt werden muss: Immer neue Griffe für Türen, Fenster und Wasserhähne, immer neue Rahmenprofile für Fenster, immer neue Formen für Ziegel und Ziegelsteine, für Lavabos und Badewannen, immer neue Farbkollektionen für alle möglichen Bauprodukte.

Die Bauindustrie hat also das Handwerk verändert, hat weltweit die Tradition des Handwerkers verdrängt. Es gibt überhaupt keine Traditionen mehr, in der konsequenten und ganzheitlichen Sinnauslegung des Wortes. Es gibt höchstens noch ein gewisses Brauchtum, welches für die Organisation des Jahreskalenders nützlich ist.

Doch zurück zum Handwerker: Ich kann nicht mehr auf ihn bauen, weil es ihn nicht mehr gibt. Er wurde ersetzt durch die Unternehmer der Bauindustrie. Diese können mir zwar gewisse Ratschläge geben – meistens Warnungen vor irgendeiner bautechnischen Dummheit – doch ihre Hände können nicht mehr denken, und ihr Hirn ist daran nicht interessiert. Ich muss also zu verstehen versuchen, was mir angeboten wird von der Industrie, muss meine Bilder von der gebauten Welt konfrontieren mit den Herstellungsprozessen der Bauindustrie. Ich muss diese Produkte, die mir zur Verfügung stehen, analysieren – die Bilder im Kopf und die industriellen Produkte –, ich muss beide Produkte wieder erhitzen, einschmelzen, zerlegen und im eigenen Schweissbad abkühlen lassen.

Das architektonische Produkt ist längst kein handwerkliches Produkt mehr. Es ist aber auch bereits kein rein industrielles Produkt mehr. Das Zusammenfallen, das Übereinstimmen von industrieller Ästhetik und architektonischer Ästhetik ist mit dem Ausklingen der Moderne verloren gegangen. Eine Tradition der Moderne ist ebenso unmöglich, ebenso wenig lebbar wie eine Tradition der handwerklichen Perioden. Nie in der Geschichte der Architektur hat es auf derart krasse Weise keinen Halt gegeben für die Architekten. Nie hat es auch derart viel miserable Architektur gegeben wie heute.

Aber es hat auch nie so viel Freiheit gegeben. Nie ist Architektur tatsächlich dem Kunstwerk so nahe gewesen und auch nie so weit entfernt. Architektur ist Erkenntnis; Architektur ist Forschung ohne Anspruch auf Fortschritt. In diesen Überlegungen ist der Begriff der Tradition von zentraler Bedeutung. In früheren Kulturen war Tradition eine Art ethisches Grundmuster, eine Art Matrix für die Identität der Dinge und der Beziehungen und für deren Selbstverständnis.

Tradition ist eine Utopie. Die Utopie einer ganzheitlichen Kultur und die Sehnsucht nach Integration des Lebens innerhalb eines differenziert funktionierenden Kollektivs. Tradition ist eine umfassende Kategorie des Seins und deshalb nicht aufspaltbar.

Ich sage erneut: Unsere Architektur steht in keiner tatsächlichen Tradition zu früheren Architekturen, aber sie bezieht sich auf diese durch Beobachtung, durch kritische Wahrnehmung, durch Kopie oder durch Ablehnung. Es ist beinahe, als sei eine frühere, vermittelnde Generation durch eine Umweltkatastrophe ausgelöscht worden. An dieser Bruchstelle setzt unsere heutige Kultur ein, die häufig als postmoderne Kultur bezeichnet wird. Diese führt frühere Verhaltens- und Bauformen nur mehr als Erscheinungsbilder der ursprünglichen, ganzheitlichen Formen fort.

Die Beziehung zu vorgegebenen Architektur und Bauformen ist unausweichlich und wichtig. Nie ist eine Architektur aus dem Nichts geschaffen worden. Es gibt aber keine vermittelnde Tradition mehr, und das ist ja auch daran erkennbar, dass zeitgenössische Architektur so oft mittels Zitaten eine Beziehung zu historischen Formen herzustellen versucht und damit nicht weiter als an die Oberfläche der Netzhaut des Auges zu dringen vermag.

Was bleibt uns anderes übrig, als all diese Bilder der Stadt, der vorgegebenen Architekturen, Bauformen und Baumaterialien, der Gerüche des Asphalts, der Abgase und des Regens in uns zu tragen, von diesen als unserer vorgegebenen Realität auszugehen und unsere Architektur in bildhafter Analogie aufzubauen? Der Umgang mit diesen bildhaften, aber nicht imitatorischen Analogien, deren Zerlegen und neues Zusammenfügen zu architektonischer Wirklichkeit ist ein zentrales Thema unserer Arbeit.

Das Sperrholzhaus von 1985 als Beispiel genommen zeigt verschiedene Verwandtschaften zu anderen Gebäuden, die wir alle irgendwie kennen: etwa die hölzernen KindergartenpavilIons, die es in Basel in verschiedenen Quartieren gibt, oder die Garderobe draussen in St. Jakob oder auf der Schützenmatte und natürlich auch die traditionelle Holzarchitektur in der Schweiz oder in anderen Kulturen.

Je näher man aber diese verschiedenen Gebäude betrachtet, desto mehr Unterschiede, ja Gegensätze, werden sichtbar: Der Kindergarten und die hölzernen Garderoben sind eindeutiger in der Detailarbeit und wesentlich bestimmt durch die Fertigungstechnik, mit einer Art linearen, funktionalen Logik. Schon hier ist keine eigentliche Tradition im erwähnten Sinne einer Durchdringung von Handwerk, Bauform und Benutzung mehr vorhanden, aber es ist noch eine Gewöhnlichkeit der Detaillierung und des Baukörpers erkennbar, die heutzutage nicht mehr möglich ist. Solche Bauten werden heute nachlässig und grob ausgeführt, oder aber die Gewöhnlichkeit und Unauffälligkeit ist sozusagen gespielt und wird zur bildhaften Absicht – woraus allerdings auch eine starke bildnerische Kraft entstehen kann.

Wenn wir das alte, traditionelle Haus näher betrachten, so werden die Gegensätze noch deutlicher. Die abgebrochene Tradition wirkt wie die ferne Utopie einer integrierten, ganzheitlichen Kultur.

Der Grundriss erscheint einfach und klar – eine Teilung nach standardisiertem, geometrischem Muster. Wenn ich das länger anschaue, erkenne ich diese Teilung aber gar nicht mehr als Teilung oder Unterteilung, sondern eher als ein aus autonomen Teilen zusammengefügtes Ganzes. So als sei das Haus in der überlieferten Form nicht durch Teilung, d.h. durch Abtrennung von Funktionen gegenüber anderen Funktionen entstanden, sondern in einem gegenteiligen Prozess eines Zusammenfügens zu einem sozialen, funktionalen, räumlichen und konstruktiven Gebilde, zu einer tatsächlich ganzheitlichen Architektur.

Findet die Grundrissgestaltung ihre geometrische Entsprechung im Querschnitt, so verstärkt sich die räumliche Integration sämtlicher Teile des Baukörpers. Der Baukörper ist ebenso geprägt durch diesen ganzheitlichen Charakter des Grundrisses, wie durch das Zusammengefügte der einzelnen Teile. Die Integration dieser Teile im Baukörper geschieht ohne spielerischen Umgang mit additiven Elementen.

In den meisten unserer Projekte versuchen wir eine ganz spezifische Beziehung des Teils und des Ganzen zu finden; beim Steinhaus in Tavole in Italien ist die Frage der Teilung oder des Zusammenfügens vielleicht besonders augenfällig.

2. Die Darstellung

Das Nachdenken über die Darstellung einer Architektur ist identisch mit dem Nachdenken über die Architektur selbst. Anders ausgedrückt: Jede Darstellung eines Architekten vermittelt Einblick in die Architektur, nicht so sehr durch die in Bildern dargestellte Architektur als durch die Darstellung selbst. Von daher kommt unsere problematische Beziehung zum herkömmlichen Architekturmodell und zur perspektivischen Zeichnung. Mit Unwillen beugen wir uns den Wettbewerbsbestimmungen, welche diese bekannten, weissen Situationsmodelle verlangen. Sie sind vermeintlich „neutral“; tatsächlich aber reduzieren sie Architektur auf Volumen und Geometrie. Dadurch scheinen sie einer Haltung entgegenzukommen, wie sie bei Le Corbusier zum Ausdruck gelangt, wenn er sagt: „L’architecture est Ie jeu savant, correct et magnifique des volumes assemblés sous la lumière“ (Le Corbusier: „Vers une architecture“).

Was nun, wenn Architektur gar kein Spiel sein sollte, schon gar kein „wissendes“ und korrektes und das Licht oft etwas nebelverhangen ist, etwas diffus, nicht so strahlend wie in einer idealen Landschaft des Südens?

Manchmal wird von Architekten auch eine perspektivische, möglichst naturalistische Darstellung verlangt. Solche Architekturbilder, die in jeder Zeit mit dem zeittypischen Design versehen auftreten, sind noch unmöglicher als die vorher erwähnten neutralen Modelle, und doch sind sich diese beiden Darstellungstechniken innerlich verwandt: Die eine Technik täuscht durch Weglassen von Information Wissen vor, die andere, die naturalistische Technik, tut dasselbe durch ein Überangebot an Informationen.• Je naturalistischer und detaillierter eine solche perspektivische Zeichnung daherkommt, desto trügerischer die Absicht. Es entsteht ein zunehmend als real empfundener Bildraum, der jedoch nichts ist als ein Stimmungsbild, ein einmaliges Erscheinungsbild einer nicht real existierenden Wirklichkeit. Dieses Mittel setzt der traditionelle Filmemacher ein, um eine Handlung in Gang zu bringen, eine Handlung, die beim Architekturbild ja abgesehen von dem emotionalen Handlungsraum des Architekten selbst völlig fehlt.

Architektur, d.h. die Wirklichkeit der Architektur, Iässt sich aber nicht in einer perspektivischen, naturalistischen und illusionistischen, manuellen oder computererzeugten Zeichnung darstellen. Das einmal fixierte (Erscheinungs-) Bild einer solchen Architektur wird sich gegen seinen Hersteller wenden. Es nutzt sich ab und wird lächerlich wie die Liebesbriefe, die man einst einer verflossenen Liebe zudachte. Das Bild wird einen einengen, weil es die Wirklichkeit der daraus entstehenden Architektur fürchtet. Das perspektivische Bild wird einen einengen, weil es keine neue Betrachtungsweise als die vom Verfasser angestrebte zulässt, keine andere Perspektive als die einmal gewählte.

Die perspektivische, naturalistische Darstellungsweise von Architektur ist deshalb auch autoritär und antiaufklärerisch, und in demselben Masse wird die dargestellte Architektur auf eine solche Richtung tendieren.

Die wirkliche Präzision einer Darstellung kann also nicht in einer Steigerung des naturalistischen Erscheinungsbildes der Architektur liegen, sondern in einer Darstellungsart, die andere Bilder der gesuchten Architektur, andere Wirklichkeitsebenen sichtbarer und unsichtbarer Art zum Ausdruck bringt. Es ist dies eine Darstellung, die aus der Struktur der Architektur herausentwickelt wird und deshalb von Projekt zu Projekt ebenso sehr sich ändert und verschieden ausfällt wie die Architektur selbst in bezug auf den Ort. Man könnte daraus beinahe eine Gleichung ableiten, eine Proportion, die das Verhältnis der Darstellung zur Architektur in eine Beziehung setzt zum Verhältnis der Architektur zum Ort.

3. Die Wirklichkeit

Die Wirklichkeit der Architektur ist nicht die gebaute Architektur. Eine Architektur bildet ausserhalb dieser Zustandsform von gebaut/nicht gebaut eine eigene Wirklichkeit, vergleichbar der autonomen Wirklichkeit eines Bildes oder einer Skulptur.

Die Wirklichkeit, die wir meinen, ist also nicht das real Gebaute, das Taktile, das Materielle. Wir lieben zwar dieses Greifbare, aber nur in einem Zusammenhang innerhalb des ganzen (Architektur)-Werkes. Wir lieben seine geistige Qualität, seinen immateriellen Wert. Das Kunstwerk ist die höchste Daseinsform des Materiellen, nachdem dieses aus seinem natürlichen Zusammenhang herausgenommen worden ist. Alle übrigen Daseinsformen des Materiellen beschreiben seine graduelle Herabminderung, die in seiner völligen Vergewaltigung endet, welche der Mensch bei der Herstellung der alltäglichen Gebrauchsgegenstände und der heute üblichen Architektur an den Tag legt.

Die Überlegungen zur geistigen Qualität des Materiellen sind, ebenso wie diejenigen über die Tradition und die Darstellung, in einem Zusammenhang zu sehen mit unserer Annäherung an diese Sache, die wir „Wirklichkeit“ nennen, aus Misstrauen und aus einer politischen Notwendigkeit heraus.

Tatsächlich interessiert uns der Architekturentwurf und das Architekturwerk als Modell, als eine Art Instrument der Wahrnehmung von Wirklichkeit und der Auseinandersetzung mit ihr. Hier sehen wir auch den moralischen, politischen Gehalt unserer eigenen Arbeit in einer eher befragenden Haltung. Nicht nur als Haltung während des Entwurfsprozesses, sondern als eine Qualität, die wir als reflexive Qualität ins Bauwerk selbst einzubringen versuchen.

Mit Moral meine ich also keinen abgeklärten, affirmativen Moralbegriff oder gar eine Morallehre.

Die Moral von der ich spreche, ist auch nicht die Moral der guten Form und der reinen Stilmittel, wie sie von den grossen Architekten der Moderne fĂĽr den neuen, modernen Menschen gefordert wurden. Wir wenden uns nicht gegen die Verschiedenheit der Stilmittel, sondern gegen ihre Beliebigkeit.

Wir wenden uns gegen diese Beliebigkeit, weil diese immer einem Abbau von Widerstand dienlich ist; einem ästhetischen, politischen Widerstand gegen die einfache Konsumierbarkeit, gegen die rasende Geschwindigkeit, mit der diese Konsumhaltung durch neues Bildmaterial unterhalten werden muss. Unser moralisch-politisch begründeter Widerstand gegen diese Beliebigkeit ist ja auch verbunden mit einer Angst, selbst aufgesogen zu werden vom sogenannten medialen Zeitraster, selbst zum Erscheinungsbild degradiert zu werden.

Eine Arbeit, von der wir meinen, dass sie dieses Befragende, in bezug auf sich selbst und in bezug auf den Ort – hier wäre es ein stillgelegter Steinbruch – auszudrücken vermag oder bei der wir zumindest einen Schritt in jene Richtung tun konnten, ist das Lagerhaus, das wir in Laufen für die Ricola AG ausgeführt haben. Es ging dabei um die Verkleidung einer Lagerhalle, d.h. einer vorgegebenen Stahlkonstruktion mit vollautomatischer Lagertechnik.

Da die äusseren Masse des Baus durch die inneren Einrichtungen und die Stahlkonstruktion bereits vorbestimmt waren, musste die Proportionierung des Baukörpers, der durch seine riesigen Dimensionen den bisherigen Massstab auf dem Gelände völlig verändern würde, durch die Struktur der Gebäudehülle hergestellt werden. Diese Struktur ist als eine Art riesige „Bretterbeige“ ausgeführt, bei der vertikale und horizontale Tragelemente, Holzbalken, Holzzementplatten und Holzkonsolen die Fassadenteile „lagern“ –analog zur inneren Struktur mit den Lagergestellen. Die äussere Struktur entspricht also der inneren Lagerstruktur des Gebäudes. Die Idee des Lagerns ist auf das Gebäude nicht sozusagen als Bild appliziert, sondern wird durch das Gebäude selbst verkörpert. Die unterschiedlichen Abmessungen der horizontalen Schichten unterstützen diesen Gedanken. Der Baukörper erhält eine beinahe „atmende“ Wirkung, bei der –im Dachfries sichtbar – die innere, blechverkleidete Stahlkonstruktion entblösst wird. Im Kontakt zum Boden wird die Idee der geschichteten Beige nochmals verstärkt durch das Auflagern auf Betonkonsolen direkt auf dem Felsboden, der entlang der nördlichen Fassade als stehende Gesteinsschicht ca. zwei Meter hoch sichtbar bleibt. Durch den Kontrast zur feingliedrigen Holzzementkonstruktion wird die Wahrnehmung des Felses gesteigert und als konstituierendes topographisches und historisches Element des Ortes ins Bewusstsein gerückt. Der Fels, der einst zur Gewinnung des sogenannten „Laufensteins“ ausgebeutet wurde, wird erst jetzt Teil dieses Ortes des Fabrikgeländes.

Ich möchte hier – im Zusammenhang mit dem Lagerhaus – einige Bemerkungen zu unserem Wohnprojekt für Wien-Aspern anfügen. Der Ort ist ein flaches Gelände im Osten der Stadt. Dieser flache, offene Raum war für uns der Ausgangspunkt – schon bei den ersten Skizzen – und findet jetzt im gültigen Situationsplan des Projekts einen korrekten, architektonischen Ausdruck. Wichtig war von Anfang an die gemeinsame Arbeit mit Adolf Krischanitz aus Wien und Otto Steidle aus München.

Die Siedlung ist in langgestreckten Reihen von Einfamilienhäusern angelegt. Diese Reihen sind gekrümmt wie eine Eisenbahn, wo die Kurve es gestattet, die Länge des Zuges zu ermessen – die Krümmung dient hier also auch als Orientierungsmittel. Der gekrümmte Raum beschreibt ausserdem ein Zentrum in der Siedlung, ohne eine hierarchische, allzu stark prononcierte Mitte bezeichnen zu wollen. Es handelt sich also nicht um ein Zentrum mit Marktfunktion oder ähnlichen soziologischen Erfindungen. Die Krümmung wird als eine Art Geborgenheit mit der erwähnten Zentralität in der Gesamtform spürbar, und gleichzeitig bleibt auch etwas Fliessendes, Offenes, auf die frühere Landschaft Bezogenes erhalten.

Die Detaillierung der einzelnen Häuser ist stark bezogen auf diese Idee der Krümmung und der Orientierung: Die Fenster sind ausserhalb oder innerhalb des Mauerwerks angeschlagen. Die Fassaden der Häuser tragen vertikale Streifen aus grobem oder feinem Putz. Die Maueröffnungen für die Fenster sind entweder innerhalb der Streifenbreite (für die konkaven Seiten) oder die Streifenbreite übergreifend (für die konvexen Seiten) angelegt. Zusammen mit anderen Details bilden sie eine Art Code für diese konkaven und konvexen Seiten sowie für den Baukörper. Dieser Code findet sich aber auch im Gesamtplan, und in dieser Durchdringung von Detail und Gesamtform liegt die Verwandtschaft zum erwähnten Lagerhaus im Steinbruch.

4. Die verborgene Geometrie der Natur

Die meisten Gegenstände, die wir im Alltag verwenden, haben für uns eine (eindeutige) Identität, welche einzig durch ihren Gebrauchswert bestimmt wird. Wir haben keine weiteren Fragen an einen solchen Gegenstand, z.B. wo er herkommt, wie und aus welchen Materialien er zusammengesetzt ist. Wir akzeptieren ihn, weil er ja hilfreich ist, ohne ihn näher zu kennen.

Auch wenn ich wollte und technisch geschult wäre, ich kann den täglich gebrauchten Gegenstand nicht begreifen, das Fernsehgerät, den Kühlschrank, den Personal-Computer. All diese Gegenstände erscheinen mir wie eine Art synthetischer Konglomerate, bei denen die Ausgangsprodukte der Herstellung kaum noch erkennbar sind, die mit anderen Stoffen in einer Art vermengt sind, dass keine Auflösung in den ursprünglichen Zustand mehr möglich ist. Der ursprüngliche Zustand wäre hier nicht einmal der natürliche, sondern vorerst der Zustand des industriellen Ausgangsproduktes, wie z.B. das Kabel, die Glasscheibe, die Stahlklinge, die Kühlflüssigkeit.

Die Kultur, in der wir heute leben, vor allem die westliche, ist eine Kultur der Vermengung und der Vermischung von Stoffen bis zu deren Unkenntlichkeit. Diese Stoffe sind ein Teil der Materie, die nach einem physikalischen Grundgesetz nie verlorengeht. Bei zahllosen Produkten unserer Industriezeit gelangen diese Stoffe, diese Materie, jedoch nur sehr schwer wieder in einen natürlichen Zyklus, d.h. sie verharren nach ihrer Verschrottung in einem unbrauchbaren, degenerierten Zustand als Depot, als Lagerstätte. Da erst werden sie zu giftigen, lebensfeindlichen Stoffen. Aus diesem Zusammenhang heraus sind Stoffe wie Blei, Quecksilber und Chlor für unser Verständnis mit negativer Wertung verbunden. Ihr harmloses, alltägliches Erscheinungsbild als Spielzeugbatterie oder als Kühlschrank ist entschwunden, ihre einstige Glanzzeit vorbei, ihre Identität, die wir in ihrem Gebrauchswert ausschöpfen und zu kennen glaubten, verschrottet.

Mein Unbehagen und mein fragendes Staunen vor den Produkten unseres Alltags sind also nicht unbegründet. Ich konnte diese ästhetischen Klumpen, diese Konglomerate mit unverständlicher Zusammensetzung nicht auflösen in meinem Kopf, nicht abbauen, genauso wie sie auf den Schrotthalden und Lagerstätten unserer Kultur nicht abgebaut werden können. Es scheint also ein Zusammenhang zu existieren zwischen einer ästhetischen, kritischen Wahrnehmung und einer tatsächlichen, messbaren Zerstörung an der realen (natürlichen) Welt.

Aber was hat das alles mit Architektur zu tun? Wohin fĂĽhrt diese Betrachtungsweise angewendet auf Architektur? Ich komme ja mit meinem ganzen Unbehagen von der Architektur her: die Architektur, deren Grenzen ich hier ausweite und sozusagen als Denkmodell benĂĽtze fĂĽr eine kritische Betrachtung unserer gesamten Kultur.

Unser Interesse an der unsichtbaren Welt liegt darin, für sie in der sichtbaren Welt eine Form zu finden, d.h. das trügerisch vertraute, sichtbare, äussere Erscheinungsbild aufzubrechen, zu zerlegen, zu atomisieren, bevor wir erneut damit umgehen können. Die unsichtbare Welt ist nicht die Welt der Mystik, es ist aber auch nicht (nur) die Welt der Naturwissenschaften, der unsichtbaren atomaren Kristallstrukturen.

Wir meinen damit die Komplexität eines Beziehungssystems, das in der Natur in letztlich unerforschbarer Vollkommenheit existiert und dessen Analogie uns im Bereich der Kunst und der Gesellschaft interessiert. Unser Interesse ist also die verborgene Geometrie der Natur, ein geistiges Prinzip und nicht primär eine äussere Erscheinungsform der Natur.

Interessanter als eine weitergehende theoretische Klärung dieser Ideen oder einer Standortbestimmung gegenüber den wichtigsten Philosophen und Künstlern, die auf verwandten Gebieten geforscht haben, wie z.B. Goethe und Novalis oder Rudolf Steiner und Bruno Taut oder Joseph Beuys, scheint mir eine nähere Betrachtung einiger unserer Arbeiten unter diesen Gesichtspunkten. So wie vorhin beim Lagerhaus oder der Siedlung in Wien, wo uns der Code, das heisst die Rückführung möglichst vieler Erscheinungsformen des Projekts auf möglichst klare und verständliche Prinzipien, interessierte.

Bei einem neuen Wohnungsprojekt auf dem Gaba-Areal in Basel gebrauchen wir nebeneinandergestellt zwei grundsätzlich verschiedene Haustypen: Das eine Gebäude hat die Struktur eines „Konglomerates“, wäre von daher also einem Stück Nagelfluh vergleichbar. Die Ganzheit des Hauses entsteht aus einer Vermengung verschiedener in sich existierender und identifizierbarer architektonischer Teile. Diese turmähnlichen Teile bestehen aus verschiedenen Materialien und sind von unterschiedlicher Grösse und Form. Sie sollen möglichst spezifischer räumlicher Ausdruck von unterschiedlichen Funktionen sein, wie z.B. Küchen, Schlafräume oder Treppen. Dieser Haustyp ist in unseren Augen verwandt mit dem Steinhaus mit kreuzförmigem Grundriss, bei dem – wie bekanntlich auch bei zahlreichen Häuserformen traditioneller Kulturen – die fertige äussere Form sehr stark von einer von innen herausdrängenden Struktur neu bestimmt wird, also eine Art Wachstumsform darstellt.

Unter dieser Betrachtungsweise erscheint der daneben angebaute Haustyp als eine völlig konträre Anlage: eine fertige, von aussen bestimmte Form, ein vertrautes, an ein kleines Fabrikgelände mit grossen Fenstern erinnerndes Gebäude – ein Gebäude mit analogem Charakter. Entsprechend dieser scheinbar vorgegebenen äusseren Form sind die Wohnungen darin eingebaut. Die grossen Fenster an der Fassade sind wichtig für das fabrikähnliche Bild der Fassade und gleichzeitig Ausdruck der zweigeschossigen Wohnungen im Innern. Das Unterscheiden und Nebeneinanderstellen dieser beiden Haustypen wird jedoch erst richtig verständlich und sinnvoll, wenn der Ort des Projekts näher betrachtet wird, ein Grundstück in Basel, nahe am Rhein und am Rande der historischen Stadt gelegen. Das konglomeratähnliche Haus steht am Fluss und wird Teil einer sehr heterogenen städtischen Uferbebauung, während das angebaute „klassizistische“ Haus in einem Hinterhof steht.

Die Architektur des Projektes für den Schwarz Park in Basel ist in ähnlich unmittelbarer Weise verbunden mit unserer Wahrnehmung des Orts bezüglich dessen topographischer und geologischer Natur (Niederterrasse und Parklandschaft).

Die Idee und die spezifische Gestalt einer architektonischen Grossform ist ebensosehr aus diesen naturgegebenen Strukturen zu verstehen wie aus dem typologischen Bezug zur benachbarten Grossform des Bethesda-Spitals. Dadurch erst entsteht ein städtebaulicher Ansatz, der versucht Beziehungen herzustellen und an Bestehendes anzuknüpfen, sei dies gebaute oder natürliche Form.

Der zur Gellertstrasse hin gebildete Hof des Baukörpers ist deshalb einerseits in einer architektonischen Tradition zu verstehen (Hoftypologie, Eingangsgeste, Beziehung zur Architektursprache des Bethesda-Hauses) und gleichzeitig als eine Art Abstraktion von Naturform, in dem Sinne, dass der Baukörper die Absicht, den Willen sozusagen der Naturform auszudrücken vermag. Der Baukörper soll die Natur nicht nachäffen, sondern soll als eine Art Instrument der Wahrnehmung des Ortes dienen, des naturgegebenen und des durch die bestehende Bebauung geprägten Ortes.

Vortrag von Jacques Herzog in der Harvard University im Rahmen des Symposiums Emerging European Architects, 18. Oktober 1988.