Herzog & de Meuron Basel Ltd.
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Jacques Herzog, Pierre de Meuron: Die Stadt und ihr Aggregatzustand. The City and its State of Aggregation. In: Gerhard Mack (Ed.). Herzog & de Meuron 1989-1991. Das Gesamtwerk. Band 2. The Complete Works. Volume 2. 2nd adv. and rev. ed. Basel / Boston / Berlin, Birkhäuser, 2005. Vol. No. 2. pp. 180-181. First published in: Jacques Herzog: La Ciudad y su Estado de Agregación. The City and its State of Aggregation." In: Josep Lluís Mateo (Ed.). "Quaderns d'Arquitectura i Urbanisme. Ciudad y Proyecto. City and Project. Vol. No. 183, Barcelona, Colegio de Arquitectos de Cataluña. Association of Catalan Architects, 12.1989. pp. 112-115.
1. Einleitender Blick auf einen Stadtplan
Wenn wir den Plan einer Stadt, z.B. der Stadt Basel, anschauen, fällt auf, dass es dichtere, geometrisch bestimmte Formen gibt, welche das Zentrum definieren, und „weichere“, sich am Rand anlagernde, zunehmend auflösende Formen. Dazwischen liegen wenige „Störzonen“, wie z.B. besonders verdichtete Industrieareale oder das Schienensystem der Eisenbahn, das durch seine fliessende Form einen besonders auffälligen Kontrast darstellt zu den kristallinen Formen der historischen Quartiere.
2. Das Architektonische Projekt: Die Projektion des Wahrnehmungsmodells des Architekten
Unsere Wahrnehmung der Stadt ist aufs engste verbunden mit dem architektonischen Produkt, das wir herstellen. Das architektonische Produkt tendiert sogar dahin, identisch zu sein mit unserer Wahrnehmung der Stadt. Wir versuchen, unsere architektonischen Bilder zu finden wie der Detektiv den Beweis am Tatort, wie der Naturwissenschaftler das System in der Natur. Es ist alles schon vorhanden, aber es kostet uns grösste Anstrengungen, die einfachsten Zusammenhänge wahrzunehmen. Wir stehen vor einem Rätsel und dieses Rätsel wird immer schwieriger, weil die Zusammenhangslosigkeit in unserer Kultur immer grösser wird. Welches ist das Wahrnehmungsmuster, aus dem unsere eigenen Projekte herausprojiziert werden?
Der Naturwissenschaftler schafft Modelle, um die Wirklichkeit der Natur zu erkennen, zu qualifizieren und zu beschreiben. In ähnlicher Weise verwenden wir die Architektur als eine Art Modell oder Werkzeug dazu, die Wirklichkeit der Stadt wahrzunehmen, d.h., etwas zu begreifen, es in einem Zusammenhang zu sehen, einen Sinnzusammenhang zu schaffen. Deshalb soll hier ein Vergleich versucht werden zwischen dem naturwissenschaftlichen Modell – basierend auf der Atomtheorie – und unserer Wahrnehmung der Stadt. Gewisse Bilder aus der naturwissenschaftlichen Forschung sollen auf die sichtbare Welt der Architektur der Stadt angewendet werden. Dieser Vergleich interessiert uns, weil die naturwissenschaftliche Forschung die Wirklichkeit untersucht und dabei für unsere Augen unsichtbare, aber deshalb nicht weniger reale Bilder der Welt der Materie aufspürt. Uns interessiert der Zusammenhang zwischen dieser unsichtbaren und der sichtbaren Welt. Das unsichtbare Bild interessiert uns, weil es das sichtbare Bild als einen Teil eines Prozesses begreifen lässt, d.h. als Teil einer Verknüpfung von Teilen zu einem Ganzen, so wie das im natürlichen Objekt in einer Vielfalt und Sinnhaftigkeit geschieht, die vom künstlichen Objekt nicht erreicht werden kann.
3. Der Kristallkörper der Stadt
Die Kräfte, welche zwischen den einzelnen Atomen und Molekülen einer Substanz wirken, sind bestimmend für die Intensität des Zusammenhalts dieser Materieteile innerhalb des Kristallgitters. Diese Energie zwischen den Materieteilen ist eng verbunden mit der Form des Kristallgitters eines Stoffs und damit letztlich auch mit der äusseren, sichtbaren Form der Materie. Es gibt Kristallformen, deren Geometrie eine besonders starke Bindung der einzelnen Atome ermöglicht, und andere Kristallformen, bei denen einzelne TeiIe
sich stärker (weg-)bewegen, wodurch die Kristallform viel eher zu einer Auflösung, zu einer Veränderung
hin tendiert.
Die traditionelle alte Stadt ist einem kristallinen Festkörper vergleichbar, wie ihn die Physik und die Chemie beschreibt. Seine Kristallstruktur hat eine feste, spezifische Gitterform, doch ähnlich wie bei natürlichen Festkörpern – also z.B. bei Gesteinen, Metallen und Keramiken – sind diese Anordnungen gestört, unrein, bisweilen gar mit einer Tendenz, die eigentliche, spezifische, typische, unverwechselbare Struktur zu verlieren. In der Kristallographie äussert sich das in einem verminderten Härtegrad bis hin zu einer veränderten Erscheinungsform des Kristalls. Beim Hinzufügen von Energie, z.B. von Wärme, oder bei anderen Substanzen, z.B. im Falle von Kochsalz, beim Hinzufügen eines Lösungsmittels wie Wasser, setzt in der Gitterstruktur, der spezifischen Form des Kristalls, eine langsame Zerstörung ein. Es findet ein Auflösungsprozess statt: die Materie erhält einen neuen Aggregatszustand.
So wie die festgefügte, kristalline Materie erscheinen uns auch die historischen Quartiere der Stadt, die Paläste und Plätze der Renaissance, des Barock und des 19. Jahrhunderts, die Kirchen und Monumente. In unserer Vorstellung – und gleichzeitig aus der Perspektive der langsamen und behutsamen Planungsschritte, welche die schweizerische Demokratie bedingt – erscheinen uns diese festgefügten historischen Stadtkörper als derart unverrückbar und unveränderlich, dass wir diese als junge Studenten gar nie als eigentliche Architektur betrachteten, also als Produkt eines Arbeitsprozesses, wie wir es selbst ein Leben lang herzustellen versuchen würden, sondern eben als ein unverrückbares Gefüge, in welchem lediglich sporadisch gewisse Teile geflickt werden müssen, wie bei einem Gebiss.
4. Die Auflösung des Kristallkörpers
Zweifellos sind die Kräfte und kulturellen Energien, welche diesen festgefügten, kristallinen, historischen Quartieren zugrunde liegen, nicht vergleichbar mit den heutigen politischen und kulturellen Kräften. Die Klarheit, Eindeutigkeit und Traditionsverbundenheit und damit die Selbstverständlichkeit, mit welcher der kristalline Körper der Stadt sich aus einer spezifischen Logik entwickelte, ist heute undenkbar geworden. Wir ertragen deshalb jene heute geschaffenen Architekturen nicht mehr, die so tun, als sei Tradition im Sinne einer verbindlichen gesellschaftlichen Ästhetik durch Simulation von traditionellen Stilen und Formen wiederherzustellen. Auch das zynische Argument, dass die Simulation historischer Architekturen und Skulpturen dem Geschmack der meisten Leute entspreche, kann daran nichts ändern.
Wir sind heute weit entfernt von den traditionellen historischen Wirkkräften, den politischen Machtkämpfen der Kirche, des Adels und der Bourgeoisie. Wir kennen sie zwar aus den Büchern, und wir leben noch in den geflickten Resten ihrer Städte, aber wir verstehen sie aus der Perspektive unserer Wirklichkeit, mit unserer veränderten Wahrnehmung, ähnlich wie das geschieht bei der Betrachtung eines alten Gemäldes von Velazquez oder Goya.
So wie der festgefügte Stadtkörper dem physikalischen Modell des kristallinen Festkörpers entspricht, findet seine zunehmende Auflösung einen bildhaften Vergleich in den abnehmenden Kräften unter den einzelnen Teilen einer Substanz durch Hinzufügen von Energie, z.B. bei ihrer Erwärmung.
Dem Übergang von etwas kristallin Erstarrtem zu etwas amorph Aufgeweichtem entspricht der Wandel der äusseren, spezifischen Gestalt einer traditionellen Stadt hin zu den heutigen, weniger spezifischen, wie in Knorpel aufgelösten Stadtformen. Diese knorpelige Stadtmasse ist direktester Ausdruck der sich weltweit umlagernden kulturellen Energien.
Unsere Empfindungen sind zwiespältig gegenüber dieser Tatsache. Wir sind in dieser aufgelösten, offenen Stadtsituation irgendwie heimisch, weil wir ja mitten in diesen Auflösungsprozess hineingeboren worden sind, der in den Schweizer Städten nach dem Krieg einsetzte. Viele unserer Projekte sind städtebaulich und architektonisch ja auch unmittelbar mit der nicht kristallinen, aufgelösten Stadtform konfrontiert, z.B. das Foto Studio Frei, das Schwarz-Park-Projekt oder das neue Lokdepot. Andererseits möchten wir uns klar abgrenzen gegen die modische Vorliebe für die Peripherie der Städte – eine typische Marotte der Architekten, die sich von falsch verstandenen Filmbildern von Antonioni oder Wenders darin noch bestärkt fühlen. Die heutige, aufgelöste, periphere Stadtform ist die Folge einer politischen und kulturellen Ohnmacht und nicht Ausdruck einer veränderten, zu grösserer Offenheit und Individualität hin tendierenden Gesellschaft.
Jacques Herzog & Pierre de Meuron