Herzog & de Meuron Basel Ltd.
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Jacques Herzog, Pierre de Meuron: Leidenschaftlich treulos. Passionate Infidelity. In: Gerhard Mack (Ed.). Herzog & de Meuron 1989-1991. Das Gesamtwerk. Band 2. The Complete Works. Volume 2. 2nd adv. and rev. ed. Basel / Boston / Berlin, Birkhäuser, 2005. Vol. No. 2. p. 182. First published in: Herzog & de Meuron: Leidenschaftlich treulos. Passion et Infidélité. Jacques Herzog. Pierre de Meuron. Bâle. In: Francine Fort (Ed.). Ouvertures. Exh. Cat. Ouvertures. L'Entrepôt, Bordeaux, France. 22 October 1990 - 6 January 1991. Bordeaux, Arc en Rêve, 1990. Vol. No. 5. pp. 18-19.
Architektur überflüssig machen, verschwinden lassen aus unserem Bewusstsein, sich etwas anderem zuwenden: Stadt ist dann wie Natur geworden. Sie braucht keine Erfindung mehr. Sie ist nicht mehr ausdehnbar. Sie ist überall. Sie ist nicht mehr kopierbar, weil sie sich zu Ende kopiert hat. Entropie der Architektur.
Welches ist die Architektur, die wir suchen, auf die wir zugehen? Die Architektur, die uns drängt und antreibt, die entdeckt werden will, aufgespürt aus der Verborgenheit unseres architektonischen Bewusstseins oder eher Unterbewusstseins? Die ans Licht drängt wie das Insekt, um, dort angekommen, ihr unausweichliches Schicksal zu erfüllen. Warum gerade diese Architektur und keine andere, obwohl es doch eine unendliche Zahl anderer Möglichkeiten gäbe? Die Architektur, für die wir kämpfen, die wir als Position zu definieren suchen, durch befreundete oder angeheuerte oder sich anerbietende Kritiker definieren lassen, damit diese nun Position gewordene Architektur verteidigt werden kann, ausgebaut gegenüber anderen Positionen aus der unerschöpflichen Menge anderer Formen, anderer Körper, anderer Oberflächen, anderer Statik und anderer Transparenz. Die Architektur, die wir denken, zeichnen, einbilden, beschreiben, die wir photographieren und mit Video umkreisen, die wir als richtig, richtiger oder zumindest als wichtiger gegenüber anderer, älterer oder gleichaltriger Architektur unterscheiden; die Architektur, die wir lieben, oder zumindest während einer Phase unseres Lebens liebten, der wir nachliefen, die wir begleiten mit der ganzen Energie unserer Wahrnehmung, Tag und Nacht, in die wir eindringen, körperlich und gedanklich, die ohne uns nicht existiert und wir nicht ohne sie.
Die Architektur, die uns anzieht wie ein Magnetfeld. Und wir, die ja dieses elektromagnetische Feld erzeugen für unsere Projekte? Diese Projektionsfläche, diese Ebene der Überschneidung, der Beinahe-Identität der Architektur und des Architekten. Und wir also erzeugen diese Spannung und unterliegen ihr, trotz jahrelanger professioneller Erfahrung, trotz gleichgültiger Miene, trotz leidenschaftslosem Auftreten? Das architektonische Projekt ist, wie der Name sagt, eine Projektion: eine geistige, gedankliche Projektion von Körper zu Körper. Architektur ist die Ausdehnung des Körpers des Architekten in eine neue, projizierte Erscheinungsform. Sie ist eine Art Reproduktion, ein Abdruck oder eher ein Ausdruck sämtlicher sinnlicher Erfahrungen des Architekten. Sie gleicht darin dem Film des Filmemachers oder dem Bild des Malers und dem Song des Musikers. Es ist die physisch-sinnliche Präsenz des Films im Kinosaal und des Tons im Lautsprecher (und nicht irgendeine biographische oder unterhaltende Komponente), die uns fasziniert, die uns bewegt, die uns eine Begegnung mit unserer eigenen physischen Präsenz ermöglicht.
Die Architektur wäre damit – von uns geschaffen, mit unserer Biographie verbunden – gar ein leibhafter Teil von uns selbst? Von uns ständig projektierenden, projizierenden Wesen, die sich bald abwenden von ihr hin zu neuen Projekten, treulos, erbarmungslos, sich lossagen, wegbewegen von ihnen, sie abstossen gleich einer abgebrannten Raketenstufe.
Und die Architektur? Sie entfernt sich ihrerseits von uns, längst in Besitz genommen, vielleicht als Kapitalanlage nützlich und brauchbar, sicher aber mit einem Kommunikationswert für andere, einprägsam durch ihr eigenes Wesen, losgelöst von unseren biographischen Zufälligkeiten. Sie steht da, als sei sie durch sich selbst entstanden, ohne die lächerliche Partikularität eines Autors, ohne dessen Handschrift, ohne Fingerabdrücke oder Schweissränder oder gar Verletzungen wie bei einer missratenen Zangengeburt. Die Architektur, sie ist verständlich nur durch sich selbst, ohne Hilfskrücken, herstellbar nur aus Architektur, nicht aus Anekdoten oder Zitaten oder Funktionsabläufen. Architektur ist eigene Wesentlichkeit an ihrem Ort.
Jacques Herzog & Pierre de Meuron