Herzog & de Meuron

ARCH+: Heft 129/130 war ein Herzog & de Meuron-Heft. Wir haben es „Minimalismus und Ornament“ genannt – eine bewusste Irritation. Jeffrey Kipnis kritisiert in El Croquis ganz massiv die Verwendung des Begriffs „Ornament“ und entwickelt statt dessen eine Art Theorie des Kosmetischen. Seid Ihr damit richtig getroffen – oder nehmt ihr es als negativ wahr?

Jacques Herzog: Im Deutschen hat Kosmetik einen sehr negativen Beigeschmack. Wenn man unsere Arbeit als Kosmetik im herkömmlichen Sprachgebrauch versteht, ist das sicher nicht richtig.

ARCH+: Aber er behandelt das Kosmetische fast wie eine eigene Kunstrichtung: Danach zielt der kosmetische Minimalismus nicht mehr auf die unmittelbare Präsens des Objektes, sondern ist nur noch Wirkung. In diesem Spiel mit der Haut hat der Körper die Tendenz zu verschwinden, sich zu dematerialisieren.

J. H.: Sicher trifft das in gewissen Fällen zu. Pauschale Klassifizierungen sind allerdings immer mit Vorsicht zu genießen. Es wird auch häufig gesagt, der Raum spiele bei uns keine große Rolle und sei eher wenig entwickelt. Das ist grundfalsch! Natürlich gibt es Projekte, bei denen wir nur wenig Einfluss auf die Raumorganisation haben, bei einem Lagerbau z.B. oder bei rein kommerziellen Projekten. Aber normalerweise bleibt unser Umgang mit den Oberflächen nicht ohne Folgen für den Raum. Du sagtest, der Körper verschwinde, und die Haut trete von der Wirkung her in den Vordergrund. Wer die Winery gesehen hat, wird dieser Interpretation kaum zustimmen: Bei diesem Gebäude durchdringt die Hülle den gesamten Raum, den sie umfasst. Die Besonderheit der Hülle ist überall im Gebäude spürbar. Würden wir sie wie eine aufgesetzte Reklameschicht behandeln, könnte man von einem Oberflächenphänomen sprechen. Doch das ist nicht unsere Strategie. In den meisten Fällen durchdringt die Oberfläche die Räumlichkeit – und das ist es auch, wonach wir suchen. Raum ist letztlich das einzige, worin sich Architektur von anderen Medien unterscheiden kann.

ARCH+: Aber die Oberfläche ist Euch doch offensichtlich wichtig – auch als Ebene der primären ästhetischen Verführung.

J. H.: Das streite ich nicht ab. Wir lieben es, die Menschen zu verfĂĽhren.

SPEZIFISCH WERDEN…

ARCH+: Verfolgt Ihr in Eurer Arbeit eine kontinuierliche Linie?

J. H.: Du erfindest die Welt nicht jeden Tag neu. Unser Interesse gilt in erster Linie der Reichhaltigkeit und Komplexität der Phänomene dieser Welt. Wir versuchen, von Projekt zu Projekt zu denken, jedesmal neu zu verstehen und etwas daraus zu entwickeln. Wir haben natürlich Erfahrungen, auf die wir aufbauen und an denen wir weiter arbeiten: die Idee von Transparenz und Solidität oder: was ist stabil, was ist flüchtig, was ist schwer, was ist leicht – und auch das bewusste Umkehren einer solchen Eigenschaft. Unsere Architektur zielt darauf ab, all die visuellen, akustischen, taktilen und geruchsmäßigen Erfahrungen, die wir als Menschen machen können auszuloten. Das soll nachvollziehbar sein und sich nach aussen ausdrücken, so dass andere damit leben können. Die Wechselwirkung und Auseinandersetzung mit der Zeit, in der wir leben, ist dabei unumgänglich. Je zeitgebundener eine Architektur ist, desto permanenter ist sie aber paradoxerweise.

ARCH+: Das, was einen aktuellen Kern trifft, ĂĽberdauert?

J. H.: Genau. Da kann man leicht missverstanden werden. Wenn wir uns für Moden, Oberflächen interessieren, dann insoweit als sie der Zeit ein Gepräge geben. Das Trendige, Modische ist uninteressant. Interessant sind eigentlich nur tiefergehende Zeitphänomene mit einer großen Qualität.

ARCH+: Woran messt Ihr Qualität?

J. H.: Qualität ist in unserer Vorstellung gebunden an den Begriff des Spezifischen, so wie ihn Judd auf seine „specific objects“ anwendet: Dinge mit einer eigenen Natur, wie eine eigene Spezies. Dinge, die eine unverwechselbare, eigene Sprache anbieten. Diese Dinge, z.B. Architektur, sollen möglichst vielfältig und möglichst verschieden sein – wir sind nicht an stilistischen Beschränkungen und Einschränkungen interessiert –, aber sie sollen nicht beliebig sein. Wiederum auf Architektur bezogen, kann die angestrebte spezifische Qualität z.B. darin bestehen, daß Phänomene der Natur in die Entwicklungsstrategie eines Projekts einfließen, so ähnlich wie man sie erlebt, wenn man durch die Landschaft geht und nasses Gras spürt oder das Abstrahlen einer heißen Felswand.

ARCH+: Eure Kontinuität liegt also in der Suche nach dem Spezifischen. Und spezifisch werdet Ihr, indem Ihr die Ebene der Sinnesempfindungen ansprecht. Wollt ihr damit den Menschen wieder stärker als Teil der Natur definieren?

J. H.: Das Spezifische ist nicht an diese Nähe zu Naturphänomenen gebunden. Wenn Du in einem ganz gewöhnlichen Bild plötzlich auf etwas triffst, um das Dein Interesse kreist, dann verweist dies auf eine spezifische Qualität. Roland Barthes hat bei der Photographie vom Punktum gesprochen. Wenn Du an einem Projekt sitzt, musst Du erstmal sein Potential erkennen und gezielt damit arbeiten. Nicht alles reinpacken! Das ist sehr schwierig, besonders wenn Du anfängst als junger Architekt.

Die Ebene der sinnlichen Erfahrungen ist eine Möglichkeit neben anderen, unseren Projekten eine spezifische Qualität zu geben. Wir sind an diesen sinnlichen Momenten in der Architektur auch deshalb interessiert, weil sie in unserer alltäglichen Erfahrung so spärlich geworden sind. Diese sinnliche Ebene ist einer der herausragenden Trümpfe, welche das Medium Architektur gegenüber anderen Medien von heute, insbesondere den elektronischen Medien, besitzt.

ARCH+: Gilt das auch fĂĽr die Empfindung von Vertrauen oder Geborgenheit? Bei Eisenmann gibt es ja z.B. den dezidierten Wunsch, Fremdheit herzustellen.

J. H.: Ja, aber Geborgenheit kannst Du nur herstellen, wenn die gleiche Architektur auch Offenheit und Ausgesetzt-Sein vermittelt. Ein Chalet, ein traditionelles Holzhaus hat das auch schon gekonnt; es war so konzipiert, dass Du aus der Natur in die Geborgenheit zurĂĽckkommst. Chalets von der Stange bieten keine Geborgenheit, es fehlt die Kontrastempfindung, welche einst durch die natĂĽrliche Landschaft gegeben war.

NATURERFAHRUNG

ARCH+: Du hast gesagt, Architektur soll sinnliche Empfindungen, wie wir sie in der Natur erleben, möglich machen. Ist das nicht eine Art romantischer Position?

J. H.: Das ist vielleicht gar nicht so falsch. Wir stehen in einer romantischen Tradition, wie einige Kritiker schon feststellten. Viele Künstler des 20.Jahrhunderts stehen in dieser Tradition: z.B. Mondrian, Beuys oder Polke, um bloß einige zu nennen. Andere Künstler hingegen, wie Ad Reinhard, wollten aus dem Naturzyklus und aus der Welt der vertrauten Bilder ausbrechen. Aber sogar seine abstraktesten Arbeiten – die schwarzen Bilder – zeigen, dass das nicht geht. Wenn man einen Pinsel in die Hand nimmt, ist man bereits in dieser analogen Welt gefangen. Mit jeder Handlung, die der Mensch unternimmt, ist er Teil dieser Natur. Die Frage ist allerdings, wie stark das Bewusstsein dafür ist.

ARCH+: Aber es ist eine sehr bereinigte Form von Natur. Ist das nicht eine ziemlich luxurierende Position, wenn die negativen oder unangenehmen Seiten der Naturerfahrung ausgeblendet werden?

J. H.: Wir können doch keine Katastrophenszenarien anbieten wie Disney: El Niño im Miniformat in der Shopping-Mall. Unser Ziel ist nicht Ablenkung, Zerstreuung, sondern wir wollen den Menschen auf sich selbst aufmerksam machen. Der Ansatz, mit den Sinnen zu arbeiten, ist radikal. Als Städter wirst Du in Deiner sinnlichen Wahrnehmung auf das Visuelle reduziert, weil die elektronischen Medien das ganze Leben beherrschen. Ein Ausdehnen der sinnlichen Wahrnehmung in der Architektur positioniert Dich plötzlich wieder ganz anders. Deshalb ist die Natur für uns wichtig – auch wenn es eine domestizierte Natur ist.

ARCH+: Selbst diese domestizierte Natur kann recht unterschiedliche Naturbilder vermitteln.

J. H.: Das ist richtig. Wenn man sich den Barcelona Pavillon anschaut, wo Mies ein Seelein gemacht hat und die berühmte Frauenskulptur von Kolbe in eine Ecke pflanzt, dann steht das ja auch für Natur: Das Weibliche schön gefasst durch die männliche Architektur – eine unheimlich reaktionäre Darstellung. Und bei Corbu ist das Pflanzliche rein dekorativ. Wir wollen die Natur viel substantieller einsetzen: Die Architektur als übergeordnete Struktur soll dabei fast ganz zurücktreten. Im Fall der Hypo-Passage sind die Pflanzen so raumbestimmend, dass die Architektur bei einer allfälligen Entfernung der Pflanzen nur noch wie ein Bilderrahmen ohne Bild wäre, das heißt der ganze Inhalt, die ganze Substanz wären weg.

ARCH+: Ist das Gebäude ein echtes Hybrid? Sind die Pflanzen integraler Bestandteil der Architektur?

J. H.: Man könnte die Architekturform fast als pflanzliche Form betrachten. Warum sollte man nicht jetzt, wo nahezu die ganze Welt mit Gebäuden überzogen ist, diese wiederum mit pflanzlichen Schichten überziehen?

ARCH+: Koolhaas hat für das Kaufhaus Breuninger eine Pflanzenfassade vorgesehen, Nouvel bei dem Wettbewerb für die französische Botschaft eine Art Paradiesgarten entworfen, Ihr arbeitet bei Ricola III und der Hypo-Passage mit Pflanzen. Zeigt sich da ein neuer Trend?

J. H.: Ich kann mir vorstellen, daß wir einen Punkt erreicht haben, wo der Umgang mit Natur und das Einbeziehen von Landschaft in die Urbanisation unumgänglich geworden sind. Jeder Eingriff durch Architektur bedingt immer auch eine Arbeit mit der Natur: Zerstörung und Reparatur. Es wird eine explosionsartige Zunahme von Landschafts- und Gartenarchitektur geben. Oder nimm die Infrastruktur: Ausweitung und Renaturierung verlaufen parallel.

ARCH+: Du hast an anderer Stelle einmal gesagt, Deine Architekturvision wäre das Verschmelzen natürlicher und künstlicher Prozesse.

J. H.: Wir können nur noch künstlich. Holland und die Schweiz sind die künstlichsten Naturen, die es gibt in Europa. Das muß man bejahen und mit dieser Künstlichkeit bewußt umgehen. Aber was Du machst, bleibt Teil von natürlichen Phänomenen. Wir kommen nie aus dem Naturzyklus heraus. Künstlichkeit und Natürlichkeit gegeneinander auszuspielen, ist unergiebig. Interessant ist nur die Frage, wie spezifisch bist Du an einem Ort, bekommt er eine Qualität, die vorher noch nicht da gewesen ist?

ARCH+: Die Befragung des Orts kann zur Betonung historischer, urbaner, aber auch geologischer oder biologischer Spezifika fĂĽhren?

J. H.: Ja. Nimm z.B. die arabische Architektur, die uns immer sehr fasziniert und inspiriert hat. Ausgangspunkt ist da, dass in einer solch trockenen Landschaft jeder Flecken GrĂĽn, der Feuchtigkeit und Schatten spendet, ein kleines Paradies bedeutet. NatĂĽrlich streben wir nicht in jedem Projekt die kĂĽnstliche Erfahrung des Paradieses an. Das versuchen die Shopping-Malls, aber die sind von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn unter dieser Glocke undifferenzierter KĂĽnstlichkeit verliert man jede Empfindung dafĂĽr, dass man ĂĽberhaupt existiert. Wir versuchen zu dem Punkt vorzudringen, wo Du Dich mit all Deinen Sinnen spĂĽrst.

ARCH+: Ihr baut nur Kathedralen?

J. H.: Die Kathedrale hat das natürlich. Aber wir verstehen das nicht in einem religiösen Sinn.

ARCH+: Strebt Ihr nach dem Erhabenen?

J. H.: Nein. Wir beschäftigen uns eher mit dem Alltäglichen.

ARCH+: Hat die Winery nicht etwas Sakrales?

J. H.: Vielleicht. Wir wollten dort sogar ein Kreuz aufhängen. Die Mexikaner, die in den Rebbergen arbeiten, sind ja katholisch. Das erschien uns dann aber doch zu theatralisch, zu sehr wie ein Zitat aus einem Mexiko-Film aus der Zeit der Revolution. Wir wollten nicht mit Versatzstücken spielen. Man kann sich natürlich fragen, ob das Spezifische nicht immer etwas Religiöses hat, da es außer Kirchen in den Städten kaum noch spezifische Gebäude gibt. Wir möchten uns aber dennoch abgrenzen gegenüber Begriffen wie Erhabenheit und Sakralität, sie sind uns zu sehr ideologisch aufgeladen.
Uns interessieren die direkten Erfahrungen. Zum Beispiel in der Winery, wenn man aus der Hitze in die Kühle zwischen diesen Steinen kommt. Das sind eigentlich ganz gewöhnliche Erfahrungen, wie sie jeder kennt. Es geht um die direkte Einwirkung der Architektur auf den Körper.

ARCH+: Habt ihr keine Angst, bei diesem Rekurs auf die Sinnesempfindungen und den Körper in die falsche Nachbarschaft zu geraten? Das fängt mit „auf den Körper hören“ an und endet bei einer Vorstellung von Natur als Subjekt.

J. H.: Das sind alte linke Denkmodelle. Aber solche polaren Modelle stimmen nie. Mir erscheint weder Natur als Schicksal noch das dialektische Herauswinden aus dem NatĂĽrlichen plausibel.

ARCH+: Trotzdem kann man sich bei der sinnlichen Wahrnehmung nicht auf anthropogene Grundkonstanten zurückziehen. Es geht doch um eine Auseinandersetzung mit unserer Zeit, mit den neuen sinnlichen Erfahrungen, die wir ständig machen.

J. H.: Body-Building ist dafĂĽr gar kein schlechtes Beispiel.

ARCH+: Da werden Bodys geformt, die es von natura aus nie geben könnte.

J. H.: Genau. Body-Building ist ein interessantes Zeitphänomen: der Aspekt der Interaktion von Mensch und Maschine, der Aspekt der Einsamkeit und der Selbstverliebtheit des Menschen und der Definition des Einzelnen mittels seines gestylten und evtl. tätowierten Bodys innerhalb der sozialen Rangordnung. Wenn man dies vergleicht mit den Jahren nach 68, wo wir alle nur schlaff rumgehangen sind und uns die Köpfe heißgeredet haben, so sagt das doch sehr viel aus, nicht nur über den radikalen Wandel unserer Gesellschaft, sondern über unsere ganze sinnliche Wahrnehmung.

…«GENERIC» SEIN
ARCH+: Ich möchte nochmal auf das Spezifische zurückkommen: soll eigentlich alles spezifisch werden?

J. H.: Natürlich nicht. Es gibt ohnehin viel mehr Anzeichen dafür, dass alles „generic“ wird. Aber das passiert von selbst, dazu braucht es keine Architekten.

ARCH+: Trotzdem, ist es nicht eine historisch ĂĽberholte Position, an jedem Ort und fĂĽr jede Situation spezifisch vorzugehen?

J. H.: Nein, nicht solange du als Architekt arbeitest. Gerade Rem Koolhaas, der ja von der „Generic City“ spricht, ist der Prototyp eines Autors des Spezifischen. Das ist ein Widerspruch, den Rem in sich trägt. Vom Stararchitekten erwartet man ein spezifisches Gebäude, sonst fragt man ihn gar nicht. Wäre er dazu nicht bereit, wäre er nicht so weit gekommen. Ein Klient, der kein spezifisches Gebäude wünscht, bedient sich im Katalog oder nimmt eine Architektursoftware zur Hand.

ARCH+: Das ist in den USA so, Eisenman und Gehry sind Ausnahmeerscheinungen.

J. H.: Das wird auch in Europa kommen. Nur die Stars überleben. Ich sage das jetzt provokativ und keineswegs, weil wir diesen Trend irgendwie befürworten: Was soll die Architektenzunft noch? Was Du heute brauchst, sind Marktleader, die einen Trend setzen, damit die Computerindustrie nachziehen und z.B. Herzog & de Meuron-Muster anbieten kann – zur allgemeinen Nachahmung. Genau wie in der Mode. Wir überleben nur mit dem Spezifischen.

ARCH+: Da steht ihr ja unter einem ungeheuren Druck.

J. H.: Ja, total. Andererseits sind wir privilegiert, weil wir im Gegensatz zu vielen anderen Menschen das tun können, was uns Spass macht.

ARCH+: Ihr liefert die Innovationen fĂĽr die industrielle Verwertung?

J. H.: Das ist der Prozess.

ARCH+: Diese Industrie gibt es aber heute noch nicht?

J. H.: In die Softwareprogramme flieĂźen bereits stilistische Elemente von Trendarchitektur ein.

ARCH+: Eure Bedruckungen und Oberflächentexturen werden dann in der Kopie „generic“?

J. H.: Nein, zuerst wird das unerträglich modisch und aufdringlich, wie alles, was man bis zum Überdruss gesehen hat. Erst wenn eine Mode abgeklungen ist, wenn ein Stil seine Penetranz verloren hat, erst dann entsteht so etwas wie eine entspannte Situation, eine beinahe wohltuende Vertrautheit. Wir alle kennen dieses Gefühl von Gewöhnlichkeit und Banalität, das so unverzichtbar zur Stadt gehört.

ARCH+: Bei dem Wohnhaus in der Schützenmattstraße habt ihr „generic“ Motive aufgegriffen. Das Muster der gusseisernen Faltläden findet man auf den Basler Kanaldeckeln.

J. H.: Die gusseisernen Elemente sind tatsächlich inspiriert von alltäglichen Kanaldeckeln, obwohl diese „Herkunft“ am fertigen Bau kaum mehr ersichtlich ist. Das schwere Eisen wirkt in der Vertikalität der Fassade eher wie etwas Organisches oder Textiles. Es ging uns ja nicht darum, Versatzstücke aus der Alltagswelt als solche erkennbar werden zu lassen, wie in der Popkultur. Bei diesen gusseisernen Fassadenelementen hat uns der Gegensatz zwischen Vertrautheit und Fremdheit interessiert. Wenn du nicht genau hinsiehst, fällt der Bau kaum auf. Ein neugieriger, aufmerksamer oder kritischer Blick entdeckt jedoch eine ganze Reihe von interessanten Bezügen. Im Idealfall sollte Architektur so funktionieren, daß sie kaum auffällt, bei genauerer Betrachtung – wenn man sie sozusagen „anklickt“ – aber eine grosse Komplexität entfaltet.

ARCH+: Eine leise Architektur, die erst in der Beziehung zum Menschen spezifisch wird und nicht ständig Aufmerksamkeit fordert?

J. H.: Eine Architektur, die direkt ist und komplex, aber nicht ständig Aufmerksamkeit einfordert aufgrund irgendwelcher Kapriolen der Fassaden.

ARCH+: Ist Architektur dann vielleicht doch Kunst? Ihr lehnt es doch immer ab, als KĂĽnstler betrachtet zu werden.

J. H.: Der von uns verwendete Begriff des Spezifischen ist wie gesagt dem Vokabular Judds entlehnt. Wie Judd verstehen wir aber das Spezifische als etwas, das nicht nur auf Kunst anwendbar ist. Die Dinge dieser Welt sind ja alle irgendwie „ober oder unterirdisch“ miteinander verbunden, haben irgendeinen Zusammenhang: Kunstwerke, Häuser, Brücken, aber auch natürliche Objekte wie Planzen oder Berge. Man kann nun nicht einfach sagen, nur Kunstwerke seien spezifische Objekte, welche die perzeptive und kreative Energie des Menschen zu fesseln und zur Entfaltung zu bringen vermögen. Das können auch Häuser, z.B. unsere Häuser, falls sie uns gut gelingen. Und daran arbeiten wir. Diese Arbeit ist aber eine architektonische, weil dabei am Schluß eben Häuser entstehen, welche zum Gebrauch da sind, nützlich sein müssen und funktionieren sollen. Sonst wären alle noch so schönen Räume und Fassadenoberflächen läppischer Schnickschnack!

VERĂ„NDERLICHKEIT

ARCH+: Wenn man die drei Gebäude für Ricola vergleicht, zeigt sich eine Entwicklung zum Konkreten: Das Lagerhaus ist noch ein sehr abstraktes Gebilde in der Auseinandersetzung mit dem Steinbruch, die Fabrik ist mit Pflanzenmotiven bedruckt, das Bürogebäude bekommt einen Vorhang aus lebenden Pflanzen.

J. H.: Wir sehen das nicht als eine evolutionäre Entwicklung. Wir machen auch heute eher „abstrakte“ Entwürfe gleichzeitig mit eher „konkreten“ Entwürfen. Allerdings interessieren uns Pflanzen als architektonisches Gestaltungsmittel im Moment sehr, und wir versuchen, hier neue Möglichkeiten auszuloten.

ARCH+: Was ist der Unterschied zu Fosters Commerzbank?

J. H.: Fosters hochgelegene Gärten unterscheiden sich kaum von denen, die wir weiter unten antreffen. Wir würden eher mit pflanzlichen Schichten und Fassadenoberflächen arbeiten oder mit Wasserflächen, die Pflanzliches entstehen lassen, oder Pflanzen, die sich in der Höhe verändern, oder mit der einfachsten Form von Künstlichkeit: einem Strauß wunderbarer Blumen in diesen Schaufenstern. Wir würden versuchen, ein vertikales Gartenkonzept wie ein textiles Gewebe zu entwickeln.

ARCH+: Sind das Textile und das Pflanzliche fĂĽr Euch verwandte Themen?

J. H.: Textilien wie Pflanzen sind uralte architektonische Gestaltungsmittel. Man denke an Zelte, Baldachine, Wolldecken oder Pergolen. Bei Textilien und Pflanzen ist die Veränderlichkeit und die zeitlich begrenzte Lebensdauer allerdings viel gegenwärtiger als bei den festen Baustoffen, obwohl gerade diese heutzutage aufgrund von Spekulation und mangelnder Ausführungsqualität häufig bereits nach wenigen Jahren vergammeln. Wir arbeiten viel lieber mit Materialien und Konstruktionen, die von vornherein ein Potential an Veränderlichkeit beinhalten. Wir beziehen diese Veränderlichkeit in unsere Planung mit ein, rechnen damit, dass der Bau über die Jahre hinweg sein Gesicht ändert. Jeder Gegenstand ist einem Alterungsprozess ausgesetzt, aber nur wenige Gebäude verändern sich so, dass man es als eine Qualität ansehen könnte.

ARCH+: Ihr arbeitet aber kaum mit textilen Elementen.

J. H.: Vorhänge aus allen möglichen Materialien und Teppiche haben in unseren Gebäuden immer ein außergewöhnliches Gewicht gehabt. Wir haben ja auch selbst Teppiche entworfen und sind daran, mit einer Künstlerin ein Konzept für die Vorhänge und Böden im neuen Ricola Marketing Gebäude zu entwickeln. Außerdem haben wir in zahlreichen Bauten textile Motive in schweren Materialien ausgeführt, wie Gusseisen, Glas, Stein. Man denke an die Faltläden des Gebäudes Schützenmattstraße oder an die „weichen“ Steinkörbe der Dominus Winery in Kalifornien.

ARCH+: Ist es nicht ein ganz anderes Herangehen, wenn Ihr jetzt mit Pflanzen arbeitet?

J. H.: Technisch gesehen geht es dabei natürlich um etwas viel Komplexeres, weil es sich ja um lebendes Baumaterial handelt. Da sind wir auf eine enge Zusammenarbeit mit Spezialisten angewiesen, wie z.B. Dieter Kienast und Günther Vogt aus Zürich, mit denen wir schon viele Projekte gemacht haben, oder Tita Giese aus Düsseldorf, mit der wir die Hypo-Passage in München planen. Wie bei anderen Projekten (Goetz Galerie, Dominus Winery) ist die Veränderlichkeit und die Dimension der Zeit bei der Arbeit mit Pflanzen sehr wichtig, allerdings müssen hierbei die wunderbaren Eigenschaften des Wachsens, Blühens und Verwelkens mitbedacht werden. Das kann man natürlich auch haben, wenn man einen Baum in der Nähe eines Hauses pflanzt. Beim Ricola Marketing Gebäude beispielsweise, wo das begrünte Dach Beschattung und Besonnung regelt, ist dieser „Baumeffekt“ allerdings noch viel direkter erlebbar. Auf den auskragenden Stangen, die den Pflanzenvorhang tragen, wachsen Efeu – als immergrüne Trägerpflanze – und etwas Blühendes oder Wein. Im Sommer ist der Vorhang wegen des Weins dichter, aber auch schwerer, dann biegen sich die Stangen stärker durch. Um diesen Effekt zu erreichen, haben wir keinen vorgebogenen Stahl genommen, sondern bewegliche Kunststoffrohre, wie sie für den Hochsprung verwendet werden. Natürlich muss diese Dachbegrünung gewartet werden, und das geht nicht per elektronischem Knopfdruck.

ARCH+: Patrick Blanc, ein französischer Botaniker, hat ein vertikales Gartensystem entwickelt, das intensiv gepflegt werden muss – und das schafft wohl in einigen Fällen Probleme.

J. H.: Dass ein solches Konzept Pflege braucht, ist doch voraussehbar. Der Aufwand für diese Pflanzen muss sorgfältig kalkuliert und von der Bauherrschaft akzeptiert werden. Sonst hat das keinen Sinn. Wir glauben nicht an den Erfolg einer Architektur, die einem Klienten sozusagen aufgeschwatzt wurde. Unterhalt und Pflege sind wichtige Bestandteile einer architektonischen Kultur, auch in der Zukunft, solange der Aufwand Sinn macht und kalkulierbar bleibt. Wir erwähnten vorhin schon die Hypo-Passage als Beispiel für eine architektonische Gestaltung, die ausschließlich von den Pflanzen lebt. Wenn wir das nicht perfekt durchplanen und die Pflanzen herausgerissen werden, bleibt von unserer Architektur nicht viel übrig.

Es ist ähnlich wie mit dem Katsura-Palast: Wenn diese feingliedrige Holzarchitektur nicht unterhalten wird, ist alles kaputt. Die Intensität der menschlichen Auseinandersetzung – wahrnehmend und pflegend – lässt eine ganz andere Form von Monument entstehen als die Gewichtigkeit der Materialien.

ARCH+: Bei der Spitalsapotheke verwendet Ihr einen naturalistischen Kunststoff-Efeu als Träger für die echten Pflanzen. Warum?

J. H.: Vieles, was wir tun, ist ja vom Bestreben gleitet, den durch verschiedenste Normen und Konventionen eingeengten Rahmen der Architektur auszuweiten. Dazu gehört der Umgang mit Materialien und Oberflächen und Raum. Manchmal sehen wir in ganz unscheinbaren Dingen eine Möglichkeit, wie z.B. diese künstlichen Pflanzen, die im allgemeinen eher wenig geschätzt werden. In großflächiger Anordnung können sie aber eine sehr gute Wirkung haben. Sie begrünen die fassadenhohe Gitterstruktur, die einige Jahre lang pflanzenlos bliebe, so lange eben, bis das natürliche Efeu hochwächst. Es wird auch interessant sein, das Nebeneinander von künstlichen Pflanzen und darüberwachsenden natürlichen Pflanzen zu beobachten.

ARCH+: Habt ihr die minimalistischen Lösungen mit den bemoosten und mit Flechten überwachsenen Betonflächen aufgegeben?

J. H.: Nein. Beim Haus Rudin, einem monolithischen Betonkörper, oder beim Atelier Zaugg läuft Regenwasser über die Fassade wie schon bei Ricola Europe. Wir lieben es, wenn der Regen an einer Fassade Spuren hinterlässt wie Tränen auf einem Gesicht. Die Oberfläche wird dadurch zur Naturfläche, felsartig. Wir versuchen diese Veränderungen zu beschleunigen oder zu akzentuieren. Das Besondere bei Haus Rudin ist, dass das Wasser nicht gleichmässig herunterläuft, sondern nur an den Kanten einer Schmalseite, was den Betonkörper an den Rändern unscharf werden lässt.

ARCH+: Ganz anders ist demgegenüber Euer neuestes Projekt, das Kramlich-Haus in Kalifornien, ein Glaspalast. Er thematisiert das Verhältnis von innen und außen.

J. H.: Das Haus besteht eigentlich eher aus vier gekurvten Glaswänden, die sich alle durchdringen, wodurch Teilräume entstehen. Das architektonische Konzept ist also ein beinahe reines Raumkonzept: Raum entsteht nicht durch Abtrennung oder Unterteilung wie in den meisten Architekturen, sondern durch Überschneidung. Es gibt auch nicht eigentlich eine Fassade, sondern nur einen nach außen gestülpter Innenraum. Es gibt aber auch keine ausschließlichen Innenwände, da sich diese nach außen hin bewegen, d.h. zu Außenwänden mutieren.

ARCH+: Wie fühlt man sich in diesem Haus? Ist man nicht ständig irritiert, desorientiert?

J. H.: Irritation auf Kosten des Wohlbefindens der Bewohner interessiert uns nicht. Für Orientierung sorgen klar gesetzte Punkte im Innen- und Außenraum. Mittels Vorhängen und innenliegenden Lamellen können die Bauteile der Glaswände auch materielle Substanz erlangen. Transparente Glaswände werden je nach Ort im Haus und Funktion des Raumabschnitts opak, transluzent oder spiegelnd.

ARCH+: Hat das Köchlin-Haus nicht ein ähnliches Raumkonzept?

J. H.: Das Koechlin-Haus mit diesen diagonalen Raumverbindungen über alle Geschosse hinweg hat ebenfalls eine sehr komplexe Raumstruktur. Es ist aber völlig anders konzipiert und konstruiert, nämlich als eine Art Kartenhaus mit abgegrenzten Raumfolgen, das sich in einer vorstädtischen Villenlandschaft inmitten von Nachbargebäuden geschickt platziert. Das Kramlich-Haus liegt in einer völlig offenen, unbeschreiblich schönen Landschaft im Napa Valley. Dieser Landschaft kann man sich aussetzen, ohne sich mit einer Fassade im Sinne eines Gesichts oder mit irgendeiner Form von Repräsentation von der Umgebung abgrenzen zu müssen.

ARCH+: Ist das nicht eine lineare Fortsetzung der modernen Tradition, wie Farnsworth-Haus?

J. H.: So wie wir Farnsworth verstehen, ist es eine reine, über der Landschaft schwebende Stahlkonstruktion, deren Innenraum mit Glasplatten vom Außenraum abgegrenzt wird. Mies verwendet dort Glas nicht eigentlich als Material, sondern als Ersatz für „Nichts“. Sein Thema ist eher die reduzierte (klassizistische) Form der Trägerstruktur, durch welche die Landschaft hindurchzieht. Wir verwenden Glas jedoch als raumbildendes Material, wie schon beim Goetz Museum oder in der Tate. Im Kramlich-Haus kommt noch hinzu, dass die Bauherrin zeitgenössische Videokunst sammelt. Diese Videos sollen in Form von Projektionen und Installationen fester Bestandteil des Gebäudes werden. Bei diesem Bau geht es uns darum, Menschen, elektronische Bilder und Landschaft in einem sich durchdringenden Raumkonzept zusammenzubringen.

ARCH+: Ist dabei die Grundidee eine Auflösung des Hauses im Bild, ohne dass es noch einen spürbaren materiellen Träger gibt, der das Bild transportiert?

J. H.: Im Gegenteil. Dem materiellen Träger, d.h. den gebogenen Glaswänden, widmen wir unsere ganze Aufmerksamkeit. Gebaute Architektur ist ohne materiellen Träger gar nicht möglich. Sämtliche Bestrebungen, diesen zu umgehen oder zu unterdrücken, sind bekanntlich gescheitert. Wir haben immer wieder darauf beharrt, daß sich so etwas wie eine gedankliche oder geistige Qualität eines architektonischen Raums in seiner Materialität ausdrückt, d.h. in der radikalen Materialisierung und nicht etwa Entmaterialisierung einer architektonischen Idee. Entmaterialisierung kann immer nur die Folge einer radikalisierten und perfektionierten Materialität sein. Das gilt für den gotischen Innenraum der Sainte-Chapelle ebenso wie für den Katsura-Palast, die Cheopspyramiden oder das Seagram Building. Ohne uns jetzt in diese grandiose Reihe einordnen zu wollen, gilt es ganz klar zu erkennen, daß gerade unsere sehr experimentell angelegte Architektur eine sehr sorgfältige Materialisierung erfordert, andernfalls würden unsere Überlegungen höchstens wie schaler Abklatsch rüberkommen. Es bedarf deshalb in den kommenden Monaten noch einiger Abklärungen, damit diese wandfüllenden Videoprojektionen, die bisher nur in unserer Vorstellung existieren, auch tatsächlich durch das nächtliche Kramlich Haus hindurchschimmern können und zur gebauten Wirklichkeit werden.

IRRITATION

ARCH+: Du hast einmal gesagt, ein Haus dĂĽrfe nicht wie ein Buch gelesen werden. Es klingt ein bisschen so, als ob Ihr die intellektuelle Auseinandersetzung mit Eurer Architektur ablehnt und nur die sinnliche Ebene gelten lasst.

J. H.: Es ist eher umgekehrt. Uns interessiert in erster Linie die gedankliche oder intellektuelle Ebene von Architektur. Aber diese intellektuelle Ebene kann nur erreicht werden, wenn die Materialität und Materialisierung einer Architektur von allem Anfang an konstituierender Teil des sogenannten Entwurfsprozesses ist. Es gibt keine Verselbständigung von Intellektualität außerhalb eines Mediums, weder in der bildenden Kunst, in der Musik, im Film, in der Literatur, der Philosophie noch in der Architektur. Der intellektuelle Prozess muss sich also von Anfang an ins Medium selbst verlagern. Die russische Komponistin Sofia Gubaidulina beschreibt diesen Prozess sehr anschaulich als „Seelenfeuer, das durch das Nadelöhr der Konstruktion muss“. Nur so kannst Du etwas bewegen, etwas in Gang setzen, z.B. eine erweiterte Wahrnehmung von Raum und Oberfläche in der Architektur erreichen. Bei dieser veränderten Wahrnehmung ist uns das Einbeziehen aller Sinne des Menschen wichtigstes Anliegen, weil dieses Ansprechen der Sinne einer der Trümpfe ist, welche die Architektur gegenüber anderen Medien, z.B. den elektronischen, hat. Wir lehnen jedoch das sentimentale Überbetonen von Sinnlichkeit und Exotik ebenso ab wie die „Literarisierung“ von Architektur, die weniger Ausdruck von Intellektualität ist als von geistiger Beschränktheit.

ARCH+: Wenn die Betonung auf veränderter Wahrnehmung liegt, dann setzt das eine Störung, Irritation des Gewohnten voraus. Und die Irritation erfolgt durch Widersprüche, scheinbar Unvereinbares oder auch nur Ungewohntes?

J. H.: Eher durch ein Infragestellen des Gewohnten. Unsere alltägliche Wahrnehmung ist abgestumpft. Wir sehen nichts, d.h. wir sehen nur das, was wir schon kennen oder zu kennen glauben. Die „Wirklichkeit“ ist jedoch ganz anders, als wir glauben; sie ist viel komplexer. Wenn wir uns dank einer verstärkten und kreativen Wahrnehmungsleistung auf diese Komplexität einlassen, entdecken wir noch ganz andere Wirklichkeiten oder andere Systeme, die sich dank eingehender Warhnehmung zu einer neuen, nie zuvor gesehenen Wirklichkeit zusammenfügen. Das ist es eigentlich, wofür wir uns interessieren, darum dreht sich unsere Architektur: Sie bietet physische Konstrukte an, die sich in der Wahrnehmung der Benutzer oder Betrachter zu möglichen Wirklichkeiten verdichten. Diese physischen Konstrukte, sind so konzipiert, dass nicht eine einzige Wirklichkeit, d.h. eine einseitige Interpretation möglich ist, sondern dass sich verschiedene Interpretationen, verschiedene Blickwinkel, verschiedene Gesichtsfelder eröffnen. So entsteht das, was Du Irritation des Gewohnten nennst.

ARCH+: Ist Eure Architektur dann am besten, wenn sie am meisten irritiert?

J. H.: Nochmals. Irritation an sich interessiert uns ĂĽberhaupt nicht. Wir setzen sie nicht illustrativ oder plakativ ein, wie z.B. in der Kunst des Dadaismus oder des Surrealismus oder in der Architektur des Dekonstruktivismus versucht wurde. Wir sind eher an unterschwelligen, auf den ersten Blick kaum erkennbaren Irritationen interessiert. Das Bild des Gewohnten soll durchaus noch erkennbar sein; oft gelingt es uns gerade dadurch eben dieses Gewohnte zu unterlaufen und hinter uns zu lassen. Schau Dir in diesem Zusammenhang noch einmal das Ricola Lagerhaus an, eine gewöhnliche graue Kiste, die sich bei näherer Betrachtung in unzählige Einzelteile auflöst: Bretter, Nägel, Latten usw., sich als ĂĽberdimensionierter Bretterstapel entpuppt.. Die Dominus Winery ist im hĂĽgeligen Hintergrund der Landschaft zunächst kaum zu entdecken. Erst mit der Zeit wird der monumentale MaĂźstab erkennbar und schlieĂźlich räumlich erlebbar. Wenn man noch näher dabeisteht oder im Gebäude drin ist, zerfällt die Monumentalität buchstäblich in BruchstĂĽcke, in einzelne Steine und in die Zwischenräume zwischen den Steinen, die sich als Lichtreflexe am Boden und an den Wänden abbilden.