Herzog & de Meuron Basel Ltd.
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Jacques Herzog, Ai Weiwei, Bice Curiger: Concept and Fake. Konzept und Fälschung. Jacques Herzog in Conversation with Ai Weiwei. Jacques Herzog im Gespräch mit Ai Weiwei. In: Jacqueline Burckhardt, Bice Curiger, Dieter von Graffenried (Eds.). Parkett. The Parkett Series with Contemporary Artists. Die Parkett-Reihe mit Gegenwartskünstlern. Vol. No. 81, Zurich, Parkett AG, 2007. pp. 122-145.
Al WEIWEI: Es ist Herbst, fĂĽhlst du eine gewisse Melancholie?
JACQUES HERZOG: Schon, ja – wir haben uns eine ganze Weile nicht gesehen, genau genommen seit April, als du uns zu jenem entlegenen Ort geführt hast, nach Ching-te-Chen, wo seit Jahrhunderten Porzellan hergestellt und bemalt wird. Das war allerdings zu einer anderen Jahreszeit mit einigen sehr warmen Frühlingstagen. Wir haben einiges über deine neuen Porzellan-Arbeiten erfahren und natürlich auch über die alte Tradition des chinesischen Porzellans, die noch immer lebendig zu sein scheint. Diese gemeinsamen Reisen bedeuten Pierre und mir viel … einfach Zeit zusammen zu verbringen, die nicht verplant ist. Ich bedaure immer wieder, dass wir manche unserer Gespräche nicht aufzeichnen können. Sie sind oft lebendiger und spontaner, als das in Situationen wie jetzt der Fall ist, wo wir etwas für eine Zeitschrift produzieren müssen.
AW: Ja, aber dieses Tonband steht in der Nähe eines Flusses, und der Fluss bewegt sich wie das Band, das heisst, wir sind in Bewegung. Wir sind auch hier noch auf Reisen. Ich bin hierhergereist, um dieses neue Gebäude zu sehen; das ist höchst interessant, all die vielen Leute, die für euch arbeiten.
JH: Aber du magst unser neues Gebäude nicht, weil darin Platz ist für eine – wie du es nennst – noch grössere Armee. Zumindest was die Quantität angeht, können wir es nun mit dir aufnehmen … Hier arbeiten 300 Leute und du hast nur 50.
AW: Wir sind nur noch 20; und das sind schon mehr, als ich bewältigen kann. Ich weiss noch, wie man sich erzählte, euer grösster Albtraum sei, dass ihr euer eigenes Büro betretet und jemandem begegnet, der nicht weiss, wer ihr seid. Ich sehe mit Freuden, dass euer Albtraum wahr geworden ist.
JH: Ja … eine grosse Firma könnte in einem echten Albtraum enden. Wir glauben, dass wir für unsere Arbeitsweise in Sachen Grösse eine Grenze erreicht haben. Pierre und ich befassen uns derzeit intensiv damit, unsere Organisationsform zu überdenken: Wie wollen wir jetzt, in fünf Jahren oder gar in zehn Jahren arbeiten? Wie viele Leute und Projekte sollen es sein? Die Firma ist als Projekt genauso wichtig wie die Architektur selbst.
AW: Aber es ist einfach zu aufregend. Darum ein Gebäude nach dem anderen?
JH: Ja.
AW: Wie viele Gebäude werdet ihr bauen?
JH: Viele Dinge, die ein Architekt ins Auge fasst, sind schon zu Ende, bevor es zum Bau kommt. Manchmal sogar wirklich spannende Projekte. Dies ist – auch wenn es paradox erscheinen mag – eine der Kräfte, die uns antreibt … Du, Weiwei, kennst dieses Gefühl, wenn sich Dinge, die man im Kopf hatte, nicht umsetzen lassen. Du arbeitest als Architekt und als Künstler, du machst Möbel und viele andere Sachen, die manchmal zum Scheitern verurteilt sind, besonders in der Architektur. Du weisst ebenso wie wir, wie viel Frustration mit manchen Projekten verbunden ist, die einem, dummerweise ans Herz wachsen und dann nicht realisiert werden. Die Filmakademie in Quingdao wäre ein grossartiges Gemeinschaftsprojekt gewesen und auch der Masterplan für Jinhua.
AW: Beide, ja.
JH: Willst du dich deshalb nur auf eine begrenzte Anzahl architektonischer Projekte einlassen? Hängt es damit zusammen, dass dabei zu viel Reibung entsteht und zu viel von deiner Energie verpufft?
AW: Nein, entweder versucht man wirklich die Kontrolle zu behalten und das Beste aus der Architektur herauszuholen, die Idee Wirklichkeit werden zu lassen, oder aber man verliert die Kontrolle und scheitert. Es ist verrĂĽckt.
JH: Du hast einige Dinge gebaut, mit denen wir gar nichts zu tun hatten, etwa deine Ziegelsteinbauten in Peking, die ich für sehr gelungen halte. Ich sage das, ohne dir schmeicheln zu wollen: Du bist mit Sicherheit der begabteste Architekt unter den Künstlern. Die Gebäude sind absolut unprätentiös, was sehr selten ist. Sie haben etwas Einfaches und Archaisches und genau darin liegt ihre Qualität – sie wollen nicht mehr sein als diese grundehrliche Sache aus Ziegelstein.
AW: Weil ich mir nicht beweisen muss, dass ich besser bin als andere Architekten. Ich stehe in keinem Wettbewerb.
JH: Und als KĂĽnstler? SpĂĽrst du die Wettbewerbssituation als KĂĽnstler?
AW: Eigentlich nicht, meine Kunst entspringt letztlich der Langeweile, das Leben langweilt mich, also muss ich hin und wieder etwas tun, und meine Werke gefallen mir nie, weisst du. Meist schäme ich mich furchtbar, wenn ich sie anschaue oder darüber rede, aber eines Tages bist du halt berühmt, auch so etwas, worum ich mich nicht reisse.
JH: Jetzt machst du uns aber etwas vor (lachend) … Das nehme ich dir nicht ab.
AW: (lachend) Wie kann ich dich überzeugen? Treten wir den Beweis an, ich höre auf Kunst zu machen, du hörst auf mit der Architektur: Tun wir das heute, machen wir einen Test. Wir sind einfach so zusammen unterwegs.
JH: Das wäre schön.
AW: Wir hören heute auf und geben eine Erklärung raus. Ich mache Schluss mit der Kunst und du machst Schluss mit der Architektur. Ich kann Zahnarzt werden und du Friseur, einverstanden?
JH: Friseur – mit meinem Haarschnitt …?
AW: Du wärst natürlich miserabel …
JH: Du könntest die Seiten wechseln … vom Künstler/Architekten zum Bauherrn, du könntest ein wichtiger chinesischer Auftraggeber werden und Architekturaufträge vergeben. Die Leute fragen uns unentwegt, wie es ist, als Architekt in China zu arbeiten. Wir können das nicht wirklich beantworten. Was würdest du sagen? Wie zuverlässig sind die Chinesen, wie gut sind sie als Bauherren? Das Nationalstadion scheint in architektonischer Hinsicht ein grosser Erfolg zu werden, auch was die öffentliche Aufnahme in der chinesischen Bevölkerung betrifft. Hier können wir gewiss nicht über die Zuverlässigkeit des chinesischen Staates als Auftraggeber klagen! Aber wie schon erwähnt, wir haben zusammen eine Menge anderer Dinge auf die Beine zu stellen versucht und vielleicht für all diese Projekte zusammen mehr Zeit aufgewendet als für das Nationalstadion. Ich finde es wirklich schade, dass diese Dinge nicht zustande kamen. Warum, glaubst du, ist das so?
AW: Mir tut es richtig weh, wir haben unser Bestes gegeben, all die Leidenschaft, die Energie und der gute Wille, die eingeflossen sind, und auch all die guten Leute, die man dafür hat arbeiten lassen, und am Ende ist es ein Desaster, und es wird überhaupt nicht geschätzt, was man geleistet hat.
JH: Hattest du auch eigene architektonische Projekte, die nicht realisiert wurden?
AW: Bei meinen Projekten geht das in Ordnung, weil ich immer akzeptiert habe, was geschah. Ich habe mir gesagt, ich bin kein Architekt, ich bin nur ein Stein in der Mauer, das ist ein absurder Zustand … Es kann extrem enttäuschend sein, aber ich finde, ihr macht so viele spannende Sachen, du und Pierre, ihr seid in dieser Hinsicht derart kompromisslos, das ist grossartig und war für mich immer eine Inspiration. Architektur ist eine äusserst komplizierte Angelegenheit, man muss wirklich den gesamten Fachkomplex durchdenken und das Ganze kontrollieren, aber was immer man erreichen will, man muss auch die Grenzen erkennen. Ich muss entscheiden, wie vie! ich gestalten will; die meisten meiner Arbeiten wurden in China ausgeführt. Ich habe nie einen Bau entworfen, der bis ins letzte Detail perfekt sein musste, weil das unmöglich ist und weil es auch nicht mein vorrangiges Ziel ist.
JH: Eben hast du gesagt, dass du Angst hattest, die Kontrolle zu verlieren …
AW: Ah, die Kontrolle zu verlieren bedeutet das Interesse zu verlieren, weil man von etwas ausgeschlossen wird … An einem bestimmten Punkt stellt man die richtigen Fragen und realisiert, dass der Kunde sich überhaupt nicht dafür interessiert, was man anzubieten hat. Das ist das Deprimierendste, man bietet eine ehrliche Lösung an, aber sie haben etwas ganz anderes im Kopf: Wozu überhaupt all diese Architektur? Es ist schwierig, Dinge zu realisieren, besonders für einen Architekten in China, denn es gibt kein System, das diese Art von Leistung anerkennen oder schützen würde. Deshalb ist das Stadion ein seltener Glücksfall, denn es wurde im Wesentlichen so gebaut, wie es euch vorschwebte.
JH: Wir glauben, dass ein Stadion – als Gebäudetyp – sich grundsätzlich von anderen Gebäuden unterscheidet. Es ist viel grober und beruht auf wenigen klaren Ideen. Diese Lektion haben wir bei der Arbeit an anderen Fussballstadien gelernt – dem St.-Jakobs-Park in Basel und der Allianz Arena in München. Andere Bauten, etwa ein Museum oder ein Laden, setzen eine viel detailliertere Planung voraus, und die Leute verhalten sich darin vollkommen anders als in einem Stadion. Ausserdem hat ein Stadion einen ganz anderen Massstab: Es gleicht eher einer Skulptur im öffentlichen Raum oder – in Peking – einer öffentlichen künstlichen Landschaft. Teile davon sind im Detail gar nicht so perfekt. Das war uns von Anfang an klar. Schon bei den ersten Wettbewerbssitzungen, bei denen du dabei warst, haben wir solche Dinge diskutiert. Der Entwurf ging schliesslich von Stahlträgern aus, die sehr dick sind, obwohl wir ursprünglich ein fragileres System im Sinn hatten. Doch das wäre mit Sicherheit in der Ausführung schwieriger und hinsichtlich der öffentlichen Zugänglichkeit problematischer gewesen. Die Architektur – und das mag ein grosser Unterschied zur Kunst sein – muss gewisse Dinge antizipieren: Sie entsteht für einen bestimmten Ort, sie ist immobil, man kann sie nicht einfach woandershin bewegen wie ein Bild, das man jederzeit abhängen kann. Wenn ein Architekt jedoch diese Grenzen begreift, akzeptiert und zu erweitern versteht, können paradoxerweise grosse Dinge entstehen, fast wie Kunst …
AW: Ja. Das ist etwas, was man nur von einem Architekten lernen kann. Und es ist eine lebenswichtige Erfahrung, weil man es mit der Realität zu tun hat. Ich meine, wie viel kann man erreichen, indem man einen ersten Zug macht, einen sehr bewussten Zug … selbst ein grober, nur skizzenhafter Ansatz kann gut sein, deshalb ist das Stadion wirklich ein grossartiges Lehrstück in Sachen Kontrollverlust und Raum zu schaffen für unvollkommene handwerkliche Fähigkeiten – in einer völlig andersartigen Kultur … Wir waren trotz alldem erfolgreich.
JH: In der Planungsphase gab es jedoch immer wieder Momente, in denen es hätte schieflaufen können. Selbst nach den zähen Sitzungen und Verhandlungen, die Pierre mit dem Auftraggeber in Peking geführt hatte, wussten wir nicht, ob unsere Detailplanung akzeptiert würde. Eine Schlüsselfrage war die dreidimensionale Biegung der Stahlträger, die sich als äusserst kompliziert erwies. Jede Änderung dieses Details hätte zu einer an eine Karikatur grenzenden Reduktion unseres Konzeptes geführt … Ich nehme an, dass deine Arbeit als Bildhauer dich gelehrt hat, wo genau in der Ausführung und materiellen Umsetzung solche Knackpunkte lauern.
AW: In der Architektur und in der Kunst hat man oft ein schönes Konzept, das sich später als wertlos oder untauglich erweist, nur wegen dieser einen Kleinigkeit, um die man kämpfen muss. Man ist so versessen darauf, es zu schaffen, weil die ganze Magie sich in diesem einen Punkt konzentriert.
JH: Wir haben über die Bedeutung des Konzepts gesprochen und nun legen wir den Nachdruck auf bestimmte Details. Die Detailausführung hat man in der Architektur nie vollständig unter Kontrolle, besonders nicht bei sehr grossen Projekten. So viele Leute sind daran beteiligt und hinterlassen ihre Spuren. Die Kunst eines grossartigen Baus beruht oft auf dem Konzept beziehungsweise der Strategie, nur jene Bereiche genau zu bestimmen und zu überwachen, wo es auf eine detailgetreue Ausführung wirklich ankommt. Eine überperfekte Ausgestaltung am falschen Ort kann zum Ärgernis werden – wie eine festliche Garderobe zum falschen Anlass.
AW: Es wäre die falsche Art von Anstrengung.
JH: Wir haben im Lauf der Jahre ein intuitives Gefühl für solche Schlüsselmomente eines Projekts entwickelt. Beim Stadion in Peking wussten wir genau, für welche Bereiche wir kämpfen mussten und wo wir uns im Aushandeln von Alternativlösungen flexibel zeigen konnten. Das Problem war in diesem Fall, dass wir die Entscheidungsfindungsprozesse auf chinesischer Seite nicht zu durchschauen vermochten. Es bestand keinerlei Transparenz und es war ein zäher Prozess, all die endlosen Sitzungen durchzustehen. Nicht einmal Uli Sigg, ein gewiefter Diplomat und Kenner der chinesischen Mentalität, oder du, Weiwei, wussten immer, in welche Richtung es gehen würde. Es gab Momente, in denen wir dachten, es müsse irgendeine graue Eminenz im Hintergrund geben.
AW: Es ist wie Boxen im Dunkeln. Man weiss, da ist irgendwo ein potenzieller Gegner, aber man weiss nicht, wer es ist, wie viele es sind und welche Taktik sie anwenden werden. Man fragt sich die ganze Zeit, wird das je gebaut werden? Wenn es dann tatsächlich im Bau ist, ist das Gefühl natürlich umso überwältigender …
JH: Als wir die Arbeit für den Wettbewerb um das Stadion in Angriff nahmen, stellten wir uns zunächst die Frage, ob das Stadion eine ähnliche, aber grössere Version des Münchner Stadions werden sollte. Häufig will ein Kunde einen bestimmten Architekten, weil er sich eine Kopie oder Nachahmung eines bestehenden Baus wünscht, der ihm gefallen hat. Aber du, Weiwei, hast sehr klar zum Ausdruck gebracht, dass es etwas vollkommen anderes sein sollte, weil die Chinesen anders denken und etwas anderes erwarten. Das war ein Schlüsselmoment in einer sehr frühen Phase. Danach fühlten wir uns frei, etwas vollkommen Neues und Unerwartetes zu wagen; umso mehr, als wir dachten, dass wir ohnehin keine Chance hatten zu gewinnen.
AW: Nachdem wir so intensiv gearbeitet hatten, weiss ich noch, wie du, kurz bevor ich ging, sagtest, wir hätten den Wettbewerb gewonnen. Ich dachte, du spinnst, weil ich nie gedacht hätte, dass es durchkommen würde. Und später war es, glaube ich, sogar noch schwieriger. Ihr habt extreme Wechselbäder durchgestanden. Besonders Pierre. Es war psychologisch ein absoluter Wahnsinn. Am Anfang unterstützte uns überhaupt niemand, alle hackten auf uns herum, all diese Architekten alter Schule kritisierten uns ohne jeden Grund. Heute liebt natürlich jeder das Stadion als Symbol eines neuen China oder was auch immer.
JH: Hast du das GefĂĽhl, dass die Leute wirklich dahinterstehen?
AW: Oh ja, alle halten es fĂĽr das wichtigste Wahrzeichen in China.
JH: Das ist auch absolut lebenswichtig für das Schicksal des Stadions nach den Olympischen Spielen. Wir verstehen das Stadion als Skulptur im öffentlichen Raum, als urbane Landschaft, in der jedermann herumklettern kann, wo man sich trifft und tanzt und all die phantastischen Dinge tut, die Leute in einer Stadt im Westen nie tun würden. Es steckt ein riesiges Potenzial im öffentlichen Leben der chinesischen Städte, und das Leben im Stadion kann sich ausbreiten und diesen neuen Stadtteil Pekings beleben. Wenn es funktioniert, wenn die Leute unseren Bau buchstäblich in die Arme schliessen, kann er wirklich erfolgreich sein, wie der Eiffelturm nach dem Ende der Weltausstellung, für die er erbaut worden war, zu einem grossen Erfolg wurde.
AW: Ja, nach den Olympischen Spielen wird es sogar noch besser genutzt werden können. Es ist ein Stadion für so viele Leute, ein demokratischer Entwurf, ein Bauwerk der Freiheit, das den Menschen aus allen Richtungen Zugang gewährt, und wenn man einmal drin ist, gibt es keine guten oder schlechten Plätze. Es ist eine tolle Idee, ein reales Gebäude so zu nutzen. Ich glaube, dass die Menschen es wirklich schätzen werden, weil es zu einem aktiven Bestandteil des urbanen Lebens des Viertels werden wird.
JH: Und wenn die Regierung verlangt, dass das Stadion eingezäunt wird?
AW: Das wird nicht geschehen, denn – weisst du noch – da ist dieser Park, in dem die Leute tanzen, singen, Tai-Chi machen. Es wird ein idealer Ort sein, um seine Zeit dort zu verbringen.
JH: Das war ein einschneidendes Erlebnis. Jemand, der nie in China gewesen ist, kann sich nicht vorstellen, wie verblüffend es ist, zu sehen, wie die Leute den öffentlichen Raum wirklich nutzen und sich mit vollkommener Selbstverständlichkeit darin bewegen. Die Japaner sind das pure Gegenteil: Kein Mensch nutzt öffentliche Räume und so etwas wie öffentliche Plätze gibt es gar nicht. Unser Stadion in Peking wäre in Japan sinnlos, auch in Amerika oder Nordeuropa würde es nicht funktionieren, weil die Leute da weniger darauf erpicht sind, den öffentlichen Raum so kreativ in Anspruch zu nehmen. Das macht das Stadion zu einem spezifischen Pekinger Projekt, viel mehr als irgendwelche ikonographischen Referenzen, die in den Vordergrund gerückt werden mögen.
AW: Ja, ich glaube, das Stadion wird zu einem Teil der Natur werden, und in China gibt es diese Tradition, etwas hoch zu schätzen, das diesen natürlichen Bedingungen gleicht, etwa ein Stück Fels oder ein Spaziergang im Garten. Ich habe gehört, ihr baut ein weiteres Stadion?
JH: Ja, vielleicht. Wir tragen uns mit dem Gedanken, möglicherweise noch ein oder zwei Fussballstadien zu bauen. Wir lieben Fussball, deshalb ist es verlockend, die beiden geographischen Regionen ins Auge zu fassen, wo der Fussball seine stärksten kulturellen Wurzeln hat: im Süden, etwa in ltalien, Spanien oder Südamerika, und in England.
AW: Wenn ihr Hilfe braucht …
JH: Natürlich können wir deine Hilfe gebrauchen; wir arbeiten gerne mit Künstlern zusammen und manchmal müssen wir das sogar. Die Bibliothek in Eberswalde wäre nicht geworden, was sie ist, ohne die Zusammenarbeit mit Thomas Ruff. Und viele vereinte Anstrengungen mit Rémy Zaugg waren äusserst fruchtbar und inspirierend – für alle Beteiligten. Rémy war auch ein grossartiger Reisebegleiter; die Zeit, die wir gemeinsam verbrachten, auch ohne konkrete Projekte im Kopf, erwies sich oft als eine Form von Zusammenarbeit. Tatsächlich hat das Reisen mit dir uns an die Zeiten mit Rémy erinnert.
AW: RĂ©my weilt nicht mehr unter uns, oder?
JH: Nun ja … ein bisschen immer noch. Hast du ihn gekannt?
AW: Immer wenn du von ihm gesprochen hast, sagtest du, du wĂĽrdest mich ihm vorstellen, aber du vergisst gern, was du sagst.
JH: Vielleicht ist er in deinen Körper geschlüpft. Aber Rémy war eher wie ein Spiegel, eine Art Sehwerkzeug, das einen genauer hinschauen und denken liess. Du bist konkreter, handfester. Die Künstler, mit denen wir gearbeitet haben, sind sehr verschieden. Interessanterweise haben sie uns dabei geholfen, die Gebäude architektonischer zu machen, und nicht etwa künstlerischer. Das klingt wieder paradox, ist es aber nicht. Und es sagt etwas Bezeichnendes über die gegenwärtige Lage der zeitgenössischen Architektur aus. Immer mehr Auftraggeber, Behörden und Unternehmer drängen die weltweite Architektenelite dazu, in einen Wettstreit um immer noch auffallendere Gebäude einzutreten. Einige dieser Entwürfe sind grossartig, viele andere sind, wie wir alle wissen, grotesk. Unsere Erfahrung in China war für uns sehr hilfreich und beruhigend, da wir auf Seiten des Auftraggebers keinen solchen Hype oder Ehrgeiz spürten. China hat im Lauf seiner jahrtausendealten Geschichte einen so unvorstellbaren Reichtum an Kunst und Architektur hervorgebracht und angehäuft, dass jeder Versuch, die Menschen mit architektonischen Extravaganzen zu beeindrucken oder gar zu schocken, absurd wäre. Die Chinesen sehen Dinge, die für westliche Augen gewagt wirken, lediglich als zeitgenössische Versionen von etwas, was in der Vergangenheit schon da gewesen ist. Sie würden Architektur nie ablehnen, weil sie neu ist, aber sie können sie ablehnen, weil sie davon nicht überzeugt sind.
AW: Jacques sagt das sehr schön. Das Stadion ist nicht einfach ein weiteres Gebäude, es ist wirklich Kunst … es stecken viele andere Elemente mit drin, es ist ein Geheimnis. Ich möchte das Wort „experimentell“ nicht verwenden, aber … hier ist es Realität geworden. Gewöhnlich weiss man bei einem Gebäude von Anfang bis Ende, wie es sein wird. Aber dies ist ein absoluter Sonderfall, so viele Antworten stecken darin und so viele Lernprozesse.
BICE CURIGER: Jacques, du hast einmal gesagt, du möchtest nie Gebäude bauen, bei denen du nichts lernen kannst. Das Stadion ist da wohl eher wie eine Liebschaft …
JH: Der eigentliche Höhepunkt – vielleicht auch die eigentliche Enttäuschung – steht noch bevor – nämlich, wenn absehbar wird, wie gut die Menschen das Gebäude nach der Olympiade annehmen und integrieren. Die Idee des Stadions als öffentlicher Raum, der nach den Olympischen Spielen aktiv genutzt werden soll, ist ein echtes Experiment. Vermag es seine Rolle als Publikumsmagnet auch in Zukunft zu erfüllen, wird es zu einem bleibenden integralen Bestandteil der Stadt werden? In dieser Hinsicht ist der Bau durchaus experimentell, jedoch nicht in dem leichtfertigen Sinn, den Auftraggeber dahin zu bringen, jede noch so ausgefallene architektonische Abstrusität zu akzeptieren. Die Chinesen sind auch sehr pragmatisch. Dubai und die Vereinigten Arabischen Emirate erleben in Sachen architektonischer Experimente zurzeit einen viel halsbrecherischen Wettlauf als China mit seiner langen Geschichte. Die Bauwut in den Emiraten hat etwas Verzweifelteres und irgendwo etwas Zerbrechlicheres.
AW: Ich denke, du hast eine gute Definition der Bedeutung von Architektur geliefert in Bezug auf die bestehende Ästhetik und die politischen Bedingungen und darauf, wer sie nutzen wird. Es geht nicht um Geld oder Gier oder irgendeinen verrückten Ehrgeiz oder ein dramatisches Spiel mit Formen. Es geht vielmehr darum, das gesamte Potenzial der Geschichte und Kultur in die Arbeit einzubringen. Das Stadion unterstreicht diese Bedeutungen, soweit sie ein Bauwerk vermitteln kann. Das ist etwas, was uns verbindet. Ich bin ein Amateur und ihr seid zwei erfahrene Architekten. Wir gestatten uns nicht, etwas Sinnloses oder Hohles zu tun. Wir können es gar nicht. Es ist verheerend. Es ist fast eine existenzielle Angelegenheit. Natürlich erwartet man von uns, über unsere Zusammenarbeit zu sprechen, aber für mich gibt es andere, interessantere Dinge in der Kunst und Architektur im Allgemeinen, oder im Leben.
Architektur hat mit dem menschlichen Überlebenskampf zu tun. Wo es einen Fluss gibt, wollen die Leute ihn nutzen, also bauen sie eine Brücke oder ein Schiff, und das geht jeden etwas an. Ich spreche nicht über Kunst, sondern darüber, wie man die beste und schönste Lösung für das Problem findet. Es ist eine Herausforderung für das Ego – die bestmöglichen Bedingungen für so viele Menschen wie möglich zu schaffen. Das macht sie so attraktiv. In der Kunst ist es natürlich anders; die Kunst ist sehr egozentrisch, man kann sie für sich allein betreiben, während die Architektur den Menschen Wohlwollen entgegenbringen kann. Meiner Ansicht nach sind dafür ganz unterschiedliche Denkweisen erforderlich.
JH: Erzählst du uns etwas über deine Stühle an der diesjährigen documenta? Ich glaube, du hast damit deine künstlerischen Strategien sehr eindrücklich und komplex zum Ausdruck gebracht. Besonders fasziniert hat mich die Tatsache, dass du das Verschwimmen von Original und Fälschung in der chinesischen Kultur thematisierst: Indem du gefälschte Antiquitäten verwendest, erzeugst du eine phantastische Aura des Originalen in einem absolut fremden Kontext …
AW: Ja, man erzeugt eine verführerische Atmosphäre. Doch dann realisieren die Leute, dass sie in der Falle sitzen: Sie nehmen die Stühle wahr, weil sie müde sind, sie sehen keine Kunst, doch dann verwandeln sich diese, weil sie an der documenta, in Deutschland, in Kassel stehen, weil das Ganze den Titel FAIRYTALE (Märchen) trägt. Natürlich ist alles eine Frage des Konzepts, aber je nachdem, wie man die ursprüngliche Idee umsetzt, verschieben sich Bedeutung und Tragweite des Projektes oder es verändert sich völlig. In der Kunst geht das viel leichter, aber ich glaube, es ist auch in der Architektur interessant, darüber nachzudenken, welchen Bezug ein Gebäude zu einer Strasse oder zu einer bestimmten Zeit hat; sie muss diese eher ästhetischen oder philosophischen Überlegungen irgendwie mit einbeziehen, sonst wird sie unsinnig. Eure Dinge funktionieren, weil ihr eine so offene Struktur habt, alles kann geschehen, ihr seid sehr verletzlich. Ihr haltet hier immer die verletzlichsten Bedingungen aufrecht, damit alles ohne Einschränkung passieren kann.
Meine Arbeit als Architekt ist nicht so interessant, oder besser: Sie wird erst interessant, wenn man sie als Teil meiner Haltung oder als Teil von China in diesem Moment betrachtet. Ich kenne Jacques und Pierre und habe mit ihnen zusammengearbeitet; in diesem Kontext kann sie interessant sein. Aber abgesehen davon hat sie keine Bedeutung, weil so was schon frĂĽher gemacht wurde oder weil es nicht gut gemacht ist,
JH: Bice, du hast gefragt, wie wir Ai Weiwei kennengelernt haben und wie es zu dieser überraschenden und intensiven Zusammenarbeit kam. Die Geschichte ist sehr einfach. Uli Sigg ist der Mann, der das möglich machte. Wie man weiss, ist er der vielleicht wichtigste Pionier, was die Erforschung des Potentials des heutigen China angeht, und im Lauf der Jahre hat er eine höchst bedeutende Sammlung zeitgenössischer Kunst aus China zusammengetragen. Er kennt Weiwei seit vielen Jahren; sie sind einen langen Weg gemeinsam gegangen und er hat uns einander vorgestellt. Eines Tages im Jahr 2002 tauchten sie in unserem Büro in Basel auf und schon bald schmiedeten wir Pläne für eine gemeinsame Chinareise. Das war der Beginn einer Beziehung, die in vielerlei Hinsicht sehr folgenreich war, beruflich ebenso wie privat, allein durch die Tatsache, dass wir den Wandlungsprozess dieses riesigen Landes aus der Nähe mitzuerleben begannen und – durch die Planung des Nationalstadions – sogar selbst aktiv daran teilhaben. Als wir jedoch gemeinsam zu reisen anfingen, hegten wir noch keinerlei Pläne oder Absichten. Uns ging es einfach darum, mehr über China zu erfahren: Weiwei kannte uns nicht und wir kannten ihn nicht.
AW: Später bin ich aber auf ein Buch gestossen, das ich vor langer Zeit gekauft habe, es war dein Buch. Ich habe es gekauft, weil darin ein ganz rudimentäres, kleines Gebäude abgebildet ist. Ich dachte, es sei nur ein Modell. Das ganze Buch hat mich angesprochen; oh Gott, dachte ich, das ist ein Künstler, kein Architekt. Also kaufte ich das Buch, aber ich weiss nicht, um welches Gebäude es sich handelt.
JH: War es das nicht realisierte Projekt für einen privaten Sammler (das Froehlich-Haus bei Stuttgart)? Wie auch immer, als wir in Peking waren – das war im November 2002 –, hörten wir vom Wettbewerb für das Nationalstadion der Olympischen Spiele 2008. Eigentlich war der Eingabetermin schon fast verstrichen, es war zu spät, aber dann sagte uns jemand, es wäre …
AW: … fünf vor zwölf.
JH: Es war buchstäblich fünf vor zwölf und irgendwie schafften wir es noch und wurden in die Teilnehmerliste aufgenommen. Das ist eines dieser seltsamen Dinge im Leben, manchmal bemüht man sich so sehr um etwas und plant jeden Schritt sorgfältig, und hier haben wir den Wettbewerb gewonnen, obwohl wir zu Beginn weder eine Strategie noch ein klares Ziel vor Augen hatten. Und dennoch ist daraus das vielleicht gewichtigste, bedeutendste und weltweit sichtbarste Projekt geworden, das wir je gemacht haben!
AW: Es ist schon sehr seltsam. Wir sind in so unterschiedlichen Gesellschaften aufgewachsen, mit so unterschiedlichen Erfahrungen und Beziehungen und mit einer völlig anderen Weltsicht. Und da ist noch etwas anderes, was es besonders schön macht. Es in eine Art zufällige Schönheit, etwas jenseits eurer eigenen Logik und Kontrolle. So was kommt vor, aber es muss im Einklang mit den eigenen Anstrengungen, Interessen und den Umständen stehen. Und es ist natürlich viel grösser, als was ihr vorbereitet habt und worauf ihr vorbereitet wart. Daneben wirkt alles andere mittelmässig und verblasst. Deshalb habe ich nach wie vor diesen Respekt vor euch. Ihr wisst, ihr habt etwas Schönes geschaffen, aber es war auch ein Stück weit Zufall.
JH: Ja und nein. Wir haben unsererseits sehr viel investiert, um die Kontrolle zu behalten, das Vertrauen zu gewinnen und auch Einfluss nehmen zu können. Pierre hat Unglaubliches geleistet, indem er immer und immer wieder nach China geflogen ist, manchmal nur, um den Kontakt aufrechtzuerhalten, der sonst in der Übersetzung untergegangen wäre.
AW: Jedes Mal, wenn ich Pierre sehe, kann ich kaum glauben, dass er das überlebt hat … Er ist so lebendig mit seiner Frau und seinen Kindern; er wird wieder jung. Ich mochte gar nicht an ihn denken; das war mein Albtraum, weisst du, die Frage, wie er mit dieser Art von Bürokratie fertig würde. In einer Sitzung interessiert es keinen, was man erzählt. Die Sitzung findet einfach statt, weil eine Sitzung stattfinden muss und noch eine und noch eine, ohne Ende. Pierre war jedes Mal hundertprozentig bereit, das gesamte Projekt zu präsentieren, aber keiner interessierte sich dafür. Eines Tages baten sie ihn beispielsweise zum ersten Spatenstich zu kommen … zur Grundeinlegung. Ein chinesischer Astrologe setzte das Datum auf den 24. Dezember an, also Weihnachten, und Pierre sagte, soviel ich in meinem Leben auch arbeite, Weihnachten verbringe ich mit der Familie. Aber dann dachte er, das ist ein wichtiges Projekt, das ist China, die haben andere Prioritäten und flog tatsächlich hin. Und als er da war, durfte er nicht einmal den Spaten selbst in die Hand nehmen.
JH: Mittlerweile sind wir weitergekommen. Ich finde, unsere Sitzung im letzten April war wirklich interessant, als wir über die Farbe sprachen, in welcher der innere Kern des Stadions gestrichen werden soll. Es wird rot sein und an einer sehr sichtbaren Stelle, also ist es entscheidend, ob es mehr in Richtung braun oder blau tendiert. Die Tatsache, dass wir dort dabei sein und die verschiedenen Farbmuster studieren durften, hat uns sehr geholfen, die verschiedenen Rotnuancen zu verstehen und ihre Wirkung auf die Leute in der Nähe und aus der Ferne. Ich denke, die sorgfältige Auswahl dieser Farbe hat sich gelohnt, auch wenn es jetzt absurd erscheinen mag, das überhaupt zu erwähnen.
AW: So sorgfältig, dass du nach China fliegen musstest, um zu entscheiden, welches Rot es sein sollte.
JH: Ja, und das Interessante daran ist, dass es keine Frage des Geschmacks ist; es geht darum, ein wärmeres oder kälteres Rot zu wählen, darum, wie es bei Tag und bei künstlichem Licht wirkt, um glänzende versus matte Flächen, darum, was geschieht, wenn die Leute es berühren oder streifen, und so weiter. Seltsamerweise weiss ich im Moment nicht einmal mehr, worauf wir uns schliesslich geeinigt haben; es war ein endloses Hin und Her ohne klare Positionen auf beiden Seiten.
AW: Mir geht es genauso, es ist wie eine ernsthafte und fruchtbare Diskussion. Es ist wie eine Religion, eine rituelle Übung der Leidenschaft und des Glaubens, und es ist ein Moment, der nicht aus deinem Leben wegzudenken wäre, weil es untrennbar damit verbunden ist, wer du bist.
BC: Mich lässt ein Gedanke nicht los: Die Architektur hat einen unmittelbaren Zweck, während die Kunst keinen solchen Zweck hat, doch merkwürdigerweise verwendest du, Weiwei, in deiner Kunst oft Objekte, die einen Zweck haben. Und wenn man etwas baut, ist es natürlich konkret. Aber wirkt es auf den zweilen Blick auch noch konkret? Oder tritt dann diese unbewusste Wirkung ein, von der du gesprochen hast?
AW: Wir arbeiten in zwei verschiedene Richtungen, aber es gibt Überschneidungen. Ich lasse das Nützliche unnütz werden; sie verbinden das Praktische mit Veränderung und Illusion. Sie eröffnen eine Perspektive, die uns ein bestimmtes Material oder Raumverständnis ermöglicht. Es ist eine Basis zur Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung, und wenn man sich überlegt, wie die Leute einen Gegenstand benutzen, setzt man auch ein sogenanntes Wissen voraus, in dem Sinn, dass „nützlich“ eine bestimmte Bedeutung hat. Die Bedeutung ist der Gebrauch. Und das spielt eine grosse Rolle für die menschliche Verständigung und Kultur. Ich meine, weshalb ist diese Farbe, dieses Rot so wichtig? Nicht, weil Jacques diese Farbe gefällt; er spricht auch vom grün des Spielfeldes, das unzählige Bedeutungen hat, genau wie das Rot. Mir ist es äusserst wichtig, mit einer Auswahl bereits bestehender konkreter Bedingungen, einem Grundstock an Wissen, zu arbeiten und dieses zu respektieren. Manchmal kann eine Änderung verheerend sein, einen konkreten Glauben zum Einsturz bringen und zu einem problematischen Zustand führen. Damit wird es zu einer Art Falle. Die Architektur ist nämlich auch eine sehr geeignete Plattform, um eine Art Staunen hervorzurufen, eine Veränderung unserer angestammten Denkweisen, unserer normalen Sicht der Dinge. Doch wenn man einen solchen Schachzug wagt, darf man die sogenannt normale Standardbedeutung nie ausser Acht lassen.
JH: Mir gefällt es, dass du die Tätigkeit des Architekten als Tendenz des Nützlichen zum Nutzlosen beschreibst, und umgekehrt, deine künstlerische Tätigkeit als eine, die vom Nutzlosen zum Nützlichen gelangen kann. Dennoch betrachte ich es als positives Anzeichen des Zustandes unserer westlichen Gesellschaft, dass die nutzlosen Werke des Künstlers höher geschätzt werden als die nützlichen Werke des Architekten.
AW: Weil sie nicht glauben können, dass der Künstler etwas Unnützes machen kann, wollen sie es zu etwas Nützlichem umfunktionieren.
JH: Mit Sicherheit ist die Kunst zu einem sehr nützlichen und mächtigen neuen Instrument auf den globalen Finanzmärkten geworden.
AW: Also wird sie zu einem finanziellen Problem. (Lachen)
JH: Für traditionelle Häuser und Museen ist dies allerdings zum Problem geworden, weil sie sich die beste zeitgenössische Kunst kaum mehr leisten können. Sie sind zunehmend abhängig vom Wohlwollen und den Launen privater Sammler – und von den Künstlern.
AW: Ja, aber in jedem Fall geht es doch immer darum, wie man seinen Wert darstellt, wie man sein Geld ausgibt und wie man seinem eigenen Wert ein Gesicht verleiht.
JH: Ganz ehrlich gesagt, habe ich oft darüber nachgedacht, wie wir Architekten in ähnliche finanzielle Sphären vorstossen könnten wie du und deine Kollegen, durch das Erzeugen eines simplen …
AW: … Stück Scheisse?
JH: Was auch immer … ich glaube, der wahre Grund, warum die finanziellen Dimensionen für Architekten andere sind, ist die Tatsache, dass Architektur sich nicht transportieren Iässt; man kann sie nicht vom Ort entfernen, wo sie gebaut wurde. Stell dir vor, wir könnten das Nationalstadion von seinem Fundament lösen und woandershin transportieren, sagen wir, in die Vereinigten Emirate, oder wir könnten das Guggenheim-Museum von Bilbao nach London versetzen.
AW: Wie im Titel meiner Ausstellung „Traveling Landscape“.
JH: Genau, ganze architektonische Landschaften auf Reisen, Ikonen werden von einem Ort an einen anderen gebracht, um dort eine neue Identität zu schaffen. Könige und Eroberer haben das in der Vergangenheit getan, meist im Sinne einer Machtdemonstration. Die zeitgenössische Version davon dürfte sich auf Geld und Eitelkeit abstützen: Architektur als mobile Handelsware. Aber Architektur ist traditionell immobil, wie die französischen und deutschen Ausdrücke für Grundbesitz deutlich machen: Immeuble und Immobilie.
AW: Aber Grundeigentum kann man weder einpacken noch mitnehmen.
JH: Pavillons dagegen können transportiert und verkauft werden und dadurch den Status eines Kunstwerks erlangen. Wie die Pavillons der Serpentine Gallery in London …
BC: Es gibt jetzt tatsächlich Sammler, die diese bahnbrechenden Bauten aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert erwerben.
JH: Genau. Das beweist, dass ein Markt entsteht, sobald Architektur wie ein Bild, eine Skulptur oder ein Möbel gehandelt werden kann. Und der Markt ist der Faktor, der den Preis bestimmt.
AW: Das ist tatsächlich eine brillante Idee. Stellt euch bloss einen Picasso vor, der für immer in Picassos Schloss hängt und nicht weggebracht werden kann.
JH: Du drehst die Sache also um und stellst dir die Kunstwerke so immobil vor wie die Architektur. Tatsächlich gab es eine Zeit, in der man lange und anstrengende Reisen unternehmen musste, um die berühmtesten Gemälde vor Ort zu besichtigen, weil es noch keine grossen Blockbuster-Ausstellungen gab, in denen sie ausgestellt werden konnten. Der ungeheure Wertzuwachs der Kunst und die damit verbundenen, in unermessliche Höhen schiessenden Versicherungsprämien könnten diese Zeiten in naher Zukunft wieder zurückbringen. Das Bestehen auf Immobilität und Dauerhaftigkeit im Gegensatz zum alles – sogar die Architektur – mobil und markttauglich machen, kann auch sehr wirkungsvolle Resultate zeitigen, in der Kunst wie in der Architektur. Nehmen wir zum Beispiel die Twin Towers in New York. Wir haben nicht am Wettbewerb für die Neubauten auf Ground Zero teilgenommen, weil wir wie gelähmt waren; wir hatten keine klare Vorstellung, was wir dort bauen sollten. Jede mögliche Variante erschien uns gleichermassen schwach und kraftlos. Es gab keinen Ansatz, der mit dem ursprünglichen Bild der beiden Türme vereinbar gewesen wäre. Allmählich wurde uns klar, dass die einzig mögliche Lösung in der Rekonstruktion der ursprünglichen Gebäude bestanden hätte. Das wäre eine wirklich starke Aussage gewesen, vielleicht der radikalste und sogar innovativste Vorschlag, voller Sprengkraft, und er hätte an Themen wie Zeit, Geschichte, Realität und Erinnerung gerührt.
AW: Diese Chance wurde verpasst. Wenn man die Türme exakt kopiert hätte, wären sie zum wichtigsten Bauwerk der Welt geworden.
JH: Zumindest wäre es interessant gewesen, darüber nachzudenken, bevor man einen Architekturwettbewerb für neue Türme und irgendein damit verbundenes Denkmal lanciert. Der Wiederaufbau wurde zwar hin und wieder angesprochen – aber nie mit allen möglichen Konsequenzen diskutiert.
BC: Würden die Leute in ein Gebäude zurückkehren wollen, das dasselbe ist?
JH: Dass du diese Frage überhaupt stellst, deutet es ja schon an: Es wäre tatsächlich etwas Besonderes, vielleicht sogar eine Art magisches Erlebnis.
AW: Als ob Wirklichkeit und Illusion sich vermischten – es könnte unheimlich stark sein. Das Stärkste überhaupt – als ob es nie passiert wäre.
JH: Oder im Gegenteil, was passiert ist, wird noch stärker – denkt an den Wiederaufbau der Frauenkirche in Dresden, der die Gesamtwahrnehmung der Stadt verändert hat.
AW: Und was geschehen ist, ist natürlich geschehen. Immer. Es kann nicht rückgängig gemacht werden.
JH: Wie wäre es mit einem solchen Projekt als Tummelplatz für eine weitere Zusammenarbeit?