Herzog & de Meuron Basel Ltd.
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Jacques Herzog: Gadamers Fussboden. In: Gerhard Mack (Ed.). Herzog & de Meuron 1997-2001. Das Gesamtwerk. Band 4." Basel / Boston / Berlin, Birkhäuser, 2008. Vol. No. 4. pp. 221-225. First published in: Jacques Herzog: Thinking of Gadamer's Floor. In: Cynthia C. Davidson (Ed.). Anything. Symp. Proceedings "Anything." The Solomon R. Guggenheim Museum, New York City, USA. 1 - 3 June 2000. New York, Massachusetts, Anyone Corporation, The MIT Press, 2001. pp. 114-119.
Das Centre Georges Pompidou in Paris lud vor einigen Jahren eine kleine Gruppe Architekten ein, sich Gedanken zu machen über eine Architekturausstellung, die sich vor allem neuen Medien und nicht traditionellen architektonischen Gegenständen wie Modellen, Plänen und Fotografien widmet. Obwohl das Projekt dann aus finanziellen Gründen nicht zustande kam, hatten wir bereits ein Konzept entwickelt. Wir wollten zunächst mit vier Personen aus unterschiedlichen Berufen und Generationen ein Gespräch über die grundlegende Frage führen: „Was ist Architektur?“ Wir wollten zum Beispiel ein Kind fragen, einen Künstler fragen und uns auch mit einem Philosophen unterhalten.
Unser philosophisches Gespräch fand vor vier Jahren statt, und zwar mit dem damals 96-jährigen Hans Georg Gadamer, der unter Martin Heidegger studiert hatte und zu den grössten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts zählt. Das Gespräch war besonders interessant, weil Gadamers Worte wie aus einer fernen Zeit und Welt klangen, aus einer Zeit der noch ungebrochenen, realen Architektur. Wir fragten Gadamer, was er ganz allgemein unter Architektur verstand, ohne auf konkrete Beispiele einzugehen. Seine Antwort enthielt keine theoretischen Erklärungen; er erzählte uns einfach eine Geschichte aus seiner Kindheit in der Stadt Breslau, wo er aufgewachsen war.
In seinem Elternhaus, einer der bürgerlichen Villen aus der Gründerzeit, gab es im Empfangssalon einen wunderbaren Parkettboden, den die Kinder (auch der kleine Hans Georg) nur bei ganz bestimmten Anlässen wie Weihnachten betreten durften. Gadamer beschrieb den Flügel und den Billardtisch, die auf dem leeren Holzboden standen, und erzählte von dieser für ihn magischen Oberfläche – diesem herrlichen Fussboden aus Holz, makellos gepflegt und gebohnert, so dass der Raum immer nach Wachs duftete. Ab und zu erhielt der Vater Besuch von einem Freund, und weil es in Breslau meistens regnet, erschien dieser mit nassem Regenmantel und Schirm. Der Mann, Universitätsprofessor wie der Vater, war ständig in Gedanken versunken und pflegte beim Betreten des verbotenen Salons Regenmantel und tropfenden Schirm eben auf diesen geheimnisvollen Fussboden zu legen. Der kleine Hans Georg war völlig entsetzt, dass ein Freund seines Vaters so etwas tun konnte. Er erinnerte sich noch ganz genau an das Bild des spiegelblanken Holzbodens mit den Wassertröpfchen vom durchnässten Schirm.
Der Wirklichkeitssinn, der in dieser Geschichte zum Ausdruck kommt, liess mich nicht mehr los. Gadamers Fussboden zeigt eine Wirklichkeit, die es nicht mehr gibt – die handwerkliche, traditionelle Auffassung eines Fussbodens als solcher ist längst verloren gegangen. Doch diese Oberfläche ist gerade deswegen faszinierend, weil sie für die heutige Architektur ein grosses Potenzial hat: Gadamers Fussboden mit seiner Konzentration auf Materialität, Gewichtigkeit und Pflege, also mit all dem, was ihn zum Fussboden als Fussboden macht, kann Emblem für eine äusserst fruchtbare gestalterische Strategie sein.
Als Bau ist die Tate Modern in London bei Künstlern, Kuratoren und Besuchern so erfolgreich vor allem aufgrund eines ihrer wichtigsten architektonischen Merkmale: des Holzbodens, den wir auf praktisch allen Ebenen einbauten. Die eichenen Bodenplanken, unregelmässig und unbehandelt, sind einfach auf Balken genagelt und gleichzeitig grob und schön. Der Fussboden ist roh wie eine industrielle Architektur und sanft wie die hyperraffinierten Stoffe der Modedesignerin Vivienne Westwood. Wir wollten eine besondere Bodenbeschaffenheit, um die Besucher innerhalb dieses riesigen Bauwerks zu verankern, zu verwurzeln, um das Gefühl buchstäblich zu unterstreichen, dass sie aufrecht vor Kunstwerken stehen. Im Gegensatz zu Gadamers Parkett ist der Fussboden der Tate nicht ein handwerkliches, sondern ein intellektuelles Produkt. Uns interessierte nicht die nostalgische Wiederbelebung längst vergangener, traditioneller Fertigungsmethoden, sondern das konkrete Ergebnis, die konkrete Wirklichkeit traditioneller Architektur. Um das in diesem Sinn Reelle heraufzubeschwören, bauten wir Modelle in Originalgrösse von grundsätzlich allen grösseren Details des Baus, um sie beim ständigen Nachdenken, Diskutieren und Probieren zu testen, anstatt uns einzelne erforderliche technische Fertigkeiten anzueignen.
So ist der Fussboden der Tate Modem zum Prototyp unseres konzeptuellen und strategischen Verständnisses von Architektur geworden; ein Verständnis, das oft im traditionellen Kostüm architektonischer, hinlänglich bekannter Elemente – bequem und gewohnt – daherkommt. Diese hölzerne Oberfläche ist natürlich nicht eine einzelne und isolierte Eigenschaft in diesem neuen Museum. Sie ist eingebunden in das Gesamtkonzept des ganzen Gebäudes und gründet auf Strategien, die Aikido nahe stehen. Das heisst, wir versuchen, wie bei der Aikido-Kampfkunst, das schon Existierende für unsere eigenen Zwecke einzusetzen, indem wir es in eigene Energie verwandeln. Was einmal fremd, feindlich und unüberwindlich erschien, wird nun unversehens zu einem Gebiet, wo man handeln und die architektonischen und urbanistischen Szenarien bestimmen kann.
Die Wichtigkeit dieser Strategien erkannten wir, als wir zum ersten Mal der riesigen Baumasse des vorhandenen Kraftwerks an der Bankside gegenüberstanden. Was war zu tun? Wir konnten doch nicht vorschlagen, diesen riesigen Backsteinberg niederzureissen oder auch nur eines seiner augenfälligen architektonischen Elemente wie etwa den Kamin (dessen Relevanz für ein Museum für zeitgenössische Kunst wir anfänglich nicht erkannten) zu zerstören. Ein weiteres Paradox des vorhandenen Bauwerks war die unverkennbare Absicht seines Architekten, Sir Giles Scott, das Gebäude mit dem Turm auf der Kuppel der Saint Paul’s Cathedral am andern Themseufer zu verbinden – einem Bau von starker urbaner und symbolischer Ausstrahlung ganz im Gegensatz zum alten Kraftwerk, das sich beim Näherkommen immer mehr abkapselt und abweisend wirkt. Scotts Design war auffällig und verborgen zugleich; die Menschen mussten ferngehalten werden. Und genau das wollten wir ändern und irgendwie rückgängig machen, freilich ohne die geballte Energie des Bauwerks zu zerstören oder zu vermindern. Also entschlossen wir uns, die niedrigen Beiwerke, die den zentralen Baukörper buchstäblich verdeckten, radikal zu entfernen. Nach diesen ersten Eingriffen fügten wir dann in einer quasi genetischen Operation stufenweise Elemente hinzu wie den Nordeingang, die Rampe und den Lichtquader. Sie sollten die gleiche Sprache sprechen und sich so in die vorhandene architektonische Familie einfügen, als ob sie schon immer dagewesen wären. Im Innern des Gebäudes entschlossen wir uns, alle Einrichtungen des ehemaligen Kraftwerks auszuräumen, um die Konstruktion in ihrer ganzen Nacktheit freizulegen. Wir merkten bald, dass das Gebäude nur als riesige Hülle für diese Einrichtungen diente: Kein einziger Raum unterschied sich vom andern; alles war mit Stahlgerüsten gefüllt, mit Plattformen, Dampfkesseln, Ventilen, Turbinen, Maschinen aller Art. Als alle Generatoren weggeräumt waren, sahen wir auf einmal das ungeheuere Potenzial dieser Turbinenhalle; ein Volumen, das man fast archäologisch ausgraben konnte, um es einem Publikum sichtbar zu machen. Dem Besucher sollte nach unserer Meinung der tiefste Punkt auf dem Museumsgelände zugänglich sein, wo alle vorhandenen Strukturen sich innen noch intensiver zeigen als von aussen. Dazu wollten wir eine hierarchische Anordnung der verschiedenen Ebenen im Museum und Untergeschosse und Hauptgeschosse meiden, also eher eine demokratische Raumaufteilung für ein Gebäude, das zu einem führenden Museum des 21. Jahrhunderts werden sollte.
Als die Turbinenhalle einmal ausgeräumt war, verblüffte und überwältigte uns der befreite Raum; er war beinahe zu gross und zu industriell, um als öffentlicher Eingang des neuen Museums in Frage zu kommen. Besonders störend wirkte die Dominanz der vertikalen Stahlträgersäulen, und wir mussten uns etwas einfallenlassen, um die Kraft und Logik des kirchenähnlichen Inneren hervorzuholen und dennoch die monumentale Wucht zu bändigen. Nach vielen Versuchen kamen wir auf die Lichtboxen, die – wie das grosse Glasstück zuoberst auf dem Gebäude – zu schweben scheinen, irgendwie unstabil wirken und die Wucht der Stahlsäulen brechen. Gerade weil sie vor den Stahlträgern (und nicht hinten oder dazwischen) montiert sind, nehmen sie den Trägern ihre Wucht. Diese Lichtboxen erfüllen mehrere, dynamische wie statische Funktionen: als gemütliche Nischen für Besucher; als Fenster ,die von den Galerien in die Turbinenhalle und von dort auf die Galerien blicken; als leuchtende Signale für den Haupteingang; und eigentümlicherweise als beinahe kinematische Monitore, die die Bewegungen der Leute projizieren.
In den Galerieräumen lag uns daran, das Spiel mit diesen unterschiedlichen Gegensätzen weiterzuführen, immer im Zusammenhang mit der harten Realität des hölzernen Fussbodens. Interessanterweise spielen in den fertig gestellten Galerien in der Tate Modern auch einige Kunstwerke auf das Ineinanderfliessen entgegengesetzter Elemente an. So zum Beispiel Gary Hills Videoinstallation „Between Cinema and a Hard Place“ aus dem Jahre 1991. Wie Sophie Howarth im Tate-Katalog beschreibt, untersucht Hill in seinen Videobildern die Metaphern, Rhythmen und Intonationen der Sprache. In einem verdunkelten Raum sind 23 Fernsehmonitore, schwarzweisse wie farbige, von der äusseren Hülle entblösst und in mehreren Zeilen wie Grenzsteine aneinandergereiht. Auf den Bildschirmen entfalten und zerstückeln sich Bildsequenzen von links nach rechts. Zuerst meint man, die Bilder würden von einer aus Heideggers Essay „Unterwegs zur Sprache“ lesenden Stimme ausgelöst. Doch die Genauigkeit der Beziehung zwischen Ton und Bild verliert zusehends an Deutlichkeit. Monitore stellen sich an und ab; flimmernde und verschwommene Bilder tauchen auf. Szenen bewegen sich von einem Bildschirm zum nächsten oder erstrecken sich über mehrere Monitore. Die Sequenzen setzen sich auseinander mit der Beziehung zwischen Alltag und Landschaft und reflektieren die emotionale und geografische Zugehörigkeit als Hauptaussage in Heideggers Ausführungen. Einige aus einem fahrenden Auto gefilmte Bilder zeigen Häuser, Fenster, Brücken, Hecken und Wegweiser – also Grenzen, die den Raum festlegen und eingrenzen. Wie Hills Titel andeutet, hinterfragt das Werk auch die Wechselwirkung zwischen kinematischem und realem Raum. Die Realität der Hardware steht im Gegensatz zu den virtuellen Videobildern, der unmittelbaren Umgebung der Galerie mit der im Bildschirm vorbeiziehenden Landschaft. Der von den Zwischenräumen der Bildschirme hartnäckig zerstückelte Bildfluss unterstreicht das Gefühl der Verstellung, wie es im Text zum Ausdruck kommt.
Für uns lesen sich Titel und Beschreibung von Hills Installation wie eine aufschlussreiche Formel für das räumliche Konzept beim Tate-Projekt und ebenso für die Gestaltung anderer Projekte, die momentan bei uns in der Entwicklung stehen, vor allem die Kramlich Residenz mit der Medien-Sammlung in Oakville im Napa Valley nördlich von San Francisco. Das Kramlich-Projekt versteht sich als eine Überlagerung dreier Raumtypen: ein unterirdischer immaterieller (kinematischer) Raum; eine Kreuzung von materiellem und immateriellem Raum auf der Gartenebene; und ein realer und materieller Raum auf dem Dachgeschoss und entlang der Dachlandschaft. Der erste ist eine Folge von Räumen zur Vorführung und Präsentation der Medieninstallationen aus der Kramlich Sammlung, zum Beispiel Hills „Viewer“ oder Bill Violas „Greeting“. Verschlungene Zwischenräume verbinden die verschiedenen Dunkelräume und schaffen zwischen den verschiedenen künstlerischen Installationen einen sanft fliessenden Korridor. Der ganze unterirdische Bereich des Gebäudes ist eine Art immaterielle und formlose Architektur, in der keine architektonische Form und kein besonderes Material visuell aktiv sein dürfen. Der Besucher sieht sich eher dem strahlenden Licht der künstlerischen Werke als der materiellen Welt der Wände, Decken und den die Galerien begrenzenden Fussböden ausgesetzt. Man stelle sich vor, auf dem Weg zum Gebäude durch die üppige Vegetation des Napa Valley zu wandern oder zu fahren, den intensiven Geruch der Bäume und Büsche einzuatmen und im Nacken das gleissende Tageslicht zu spüren, und auf einmal befindet man sich in einer vollkommen künstlichen unterirdischen Welt. Die Wahrnehmung der Realität wechselt dann wortwörtlich in etwas Kinematisches und beinahe Immaterielles.
Auf diesem verborgenen dunklen Raum sitzt ein Glashaus, ganz aus geschwungenen, sich überschneidenden Glaswänden gebaut. Wohnflächen, Badezimmer, Gästezimmer, Schwimmbecken, Elternschlafzimmer sind ineinander verwoben wie ein Labyrinth aus fliessenden durchsichtigen Räumen. Das Filmische setzt sich hier fort, indem bestimmte Teile der geschwungenen Glaswände mit der Projektion von Filmen, Videos und anderen elektronischen Medien belebt werden. Aber im Gegensatz zu Gemälden und Skulpturen kann man sie ein- und ausschalten, also zwischen dem Materiellen und Immateriellen hin- und herpendeln. Das durchsichtige Glas der Wände bietet spektakuläre Ausblicke auf die Landschaft und den üppigen Kramlich-Garten. Diese Ausblicke auf die Natur unterstreichen den physischen Aspekt des Glashauses, während die auf die Glaswände projizierten elektronischen Bilder den architektonischen Raum entmaterialisieren.
Das Dach als dritte Ebene der Kramlich Residenz ist am stärksten als Festkörper ausgebildet. Baulich und architektonisch unterscheidet es sich augenfällig vom unterirdischen Bereich und der Glasinstallation: ein durch die Schaffung von ausladenden Spannweiten und grosszügigen Überdachungen eher expressiver architektonischer Stil. Um den Unterschied zu verdeutlichen, sind die Stahlträger und Balken mit einer lichtdurchlässigen, nachts beleuchteten Teflonmembran verkleidet, so dass sich die ganze Dachlandschaft in eine riesige Laterne verwandelt. In der Dachkonstruktion erzeugen Leerräume zwischen den grossen Tragbalken unregelmässige, intime Nischen wie bei einem herkömmlichen Dachboden. Diese ganz traditionellen Räume sind mit Holzböden, Tapeten und konventionellen Ausgängen zur Dachterrasse ausgestattet, um das Gefühl des Realen zu unterstreichen.
Die Kramlich Residenz bietet auf diese Weise eine breite Palette verschiedenartiger Räume, die weit über die traditionellen Bedürfnisse und Zwecke eines Privathauses hinausgehen. Das weitaus Spannendste war für uns jedoch nicht so sehr die abwechslungsreiche Gestaltung, sondern vor allem die in der Abfolge der Räume sich abzeichnenden, abwechselnden Auffassungen von Realität. Diese Verschiedenartigkeit erklärt sich teils durch unsere architektonischen Strategien, teils durch unsere beinahe subversive Ausstellungsidee, die Kunstobjekte überall zu platzieren und alltägliche häusliche Einrichtungen mit technisch hochraffinierten Kunstinstallationen zu verknüpfen. Eigentlich zeugt das ganze Haus von unserem architektonischen Ansatz, das Natürliche und Künstliche, das Materielle und Immaterielle, Kunst und Nicht-Kunst, das Öffentliche und das Private heraufzubeschwören und miteinander zu verbinden.
Jacques Herzog