Herzog & de Meuron

Unter dem spezifischen Gewicht der Architekturen verstehe ich meine individuelle Norm, keine allgemeine, wie z.B. das spezifische Gewicht von Gold. Das spezifische Gewicht ist meine Vorstellung von den Dingen, ist eine Substitution von Dingen durch meine Bilder. Ein Aufsatz mit diesem Titel ist also keine wissenschaftliche Abhandlung über Architektur. Ich lege einige meiner Gedanken, meiner Bilder vor, die auf das für mich Spezifische von Architekturen hinzielen sollen. Ich bin weit davon entfernt, Theorien anbieten zu können, oder gar Rezepte; keine Theorien, weil schliesslich nur die gebaute Architektur zeigt, wo man steht, ob in der ersten oder in der vierten Liga; dazwischen ist nichts, und doch das meiste in diesem Land.

Ich versuche, etwas zur Situation der 60er und 70er Jahre zu sagen, ich versuche, nach dem Umbruch in der Architekturszene der letzten Jahre zu fragen, einem Umbruch, der die Architektur und die Auseinandersetzung mit ihr von weiss ich welchen Hilfsdisziplinen weg wieder näher zu sich selbst rückt und – scheinbar – wieder näher zur Kunst. Dieses Thema ist mir wichtig, umso mehr, als auch die Kunst seit den späten 60er Jahren entscheidende Brüche zeigt, die sich dort aber nicht so geschmäcklerisch äussern wie in der Architektur oder doch in der als „künstlerisch“ verstandenen Architekturzeichnung. Tatsächlich rückt der Architekt, der für seine Arbeit diesen Anspruch stellt, immer weiter weg von der Arbeit und dem Bewusstsein des Künstlers.

Für mich sind die späten 60er Jahre – die ich als Teenager in Basel im Realgymnasium verbrachte – eng verbunden mit einer Vorstellung von Expansion der Wirtschaft, mit vielen beruflichen Möglichkeiten, mit dem Autobahnbau, mit den Filmen von Jiři Menzel und Jean-Luc Godard und z.B. mit dem „Messer im Wasser“ von Roman Polanski im Bon Film des Kino Royal, mit den ersten Zigaretten und den ersten Küssen. Die Architektur sah ich als eine Art mit dem Lineal gemachte Kunst, weniger die Bauten, welche ich täglich sah, als die, welche ich mir in meinen Gedanken vorstellte. Die damals in Basel entstehenden Bauten äusserten sich mir in ihren typischen, überall anzutreffenden Merkmalen, die ich nachträglich als eigentliche Stilelemente isolieren kann.

Für mich hat das Ganze immer irgendwo einen rechtwinkligen, strukturhaften Charakter, im Denken wie in den gebauten Formen. Ich meine das nicht negativ, wie ich überhaupt nicht für oder gegen eine Epoche bin (ich könnte ja wie viele Architekten z.B. die 30er Jahre besonders gerne haben); ich stelle bloss fest. Es sind einzelne und vor allem emotionale Gesichtspunkte, die mich interessieren. (Die vollständige, richtige und objektive Einsicht in diese Dinge – falls es sie gibt – ist Sache der Architekturhistoriker.)

Aluminium, farblos eloxiert, war als Material sicher ein wichtiges Gestaltungselement der 60er Jahre, ebenso gefärbte Fassadenplatten aus Glas, Rafflamellen und eine wenig plastische, rechtwinklige Gestalt von Bauten und Einrichtungen. Ein Bezug zu Mondrian – bei gewissen Bauten dieser Zeit angesichts einer oberflächlichen Ähnlichkeit oft vorgebracht – ist absurd. Man kann Häuser und Bilder so nicht vergleichen. Wenn mir z.B. bei einem Bankgebäude aus den 60er Jahren ein Bezug zur Kunst einfällt, so sind es grosszügige, weite Räume, mit grauem Marmor belegte Böden in Eingangshallen und Direktionsbüros mit Teakholzverkleidung und grosse Bilder von Barnett Newman, Rothko, Motherwell, auch ein Yves Klein, ganz blau, warum nicht, ein neueres Werk von Helmut Federle, und im Vorzimmer eine scharf geschminkte Sekretärin. Die Fensterscheiben dieser Bauten waren noch ungetönt (Klarsicht), die Räume bereits klimatisiert. Die metallischen Bank- und Versicherungsgebäude waren Fremdkörper in der steinernen Stadt – das ärgerte mich damals immer, und ich wurde darin bestärkt, als ich zum ersten Mal die Städte Italiens sah. Tatsächlich ist die anmassende Weigerung – ohne Empfindung und ohne Bewusstsein –, die neuen Bauten in die Zusammenhänge des Stadtgrundrisses einzufügen, ein wesentliches Kennzeichen dieser Architekturen.

Flexibilität, auf dem Papier durchgespielte Wachstums- und Bedürfnisvarianten, sind ein weiteres Merkmal der Planungen in den 60er und auch 70erJahren. Vor allem bei Schulhäusern dachte man in Etappen, die ja aufgrund des Bevölkerungswachstums kommen würden. Heute stehen die ersten Etappen dieser Planungen in der Landschaft, meist ohne Hoffnung auf die Ergänzung, die vielleicht eine Form erkennen liesse, nicht nur eine planerische, sondern eine architektonische Idee. Dass man ein Haus baut und vielleicht später ein anderes dazu – wenn es einen Bedarf dafür gibt – und dass jedes Haus etwas für sich ist, lag offensichtlich ausserhalb der damaligen Vorstellung.

Die Bauten, die bis zuletzt in der Schweiz erstellt wurden, zeigen immer noch wesentliche Gestaltungsmerkmale der 60er Jahre, mit dem Unterschied, dass die frühere formale Klarheit und Kälte und irgendwie auch „Echtheit“ – nicht als moralischer, sondern als stilistischer Begriff gemeint – nun „vermummt“ ist in den Wintermantel der Energiepanik – die ihrerseits noch keine interessante Architektur hervorgebracht hat (mit Ausnahme einiger alternativenergiebetriebener Hexenhäuschen). Diese „Spätsechziger“ der 70er Jahre sind ebenso auf Rastern aufgebaut, jedoch oft mit „gebrochenen“ Kanten; ebenso Aluminium, jedoch in warmen Farben eloxiert, Gold oder Bronze, oder einbrennlackiert, orange oder braun, in allen Nuancierungen. Und die Fenster sind getönt.

Das in den 60er Jahren so beliebte Grau wurde nun als kalt und „rnonoton“ empfunden und verschwand. Sogar die Anzüge der Manager waren nun vorwiegend braun und beige, die Hemdkragen breit, ebenso die Krawatten, sogar lange Haare, zuvor an Hippies und Künstlern indigniert abgelehnt, wurden selbstverständliches Attribut. Pier Paolo Pasolini schrieb irgendwo über diese Haare, die Zeichen einer Generation und einer Art Gegenwelt waren, bis eine andere Generation mit anderen Zielen sie sich aneignete. Statt in der Luft wehen die Haare in der Klimaanlage.

Mir sind die grauen Manager (mittlerweile ist es ja wieder anders, wieder klassischer, mit schmaler Krawatte und engeren Hosen) irgendwie lieber, nicht als Personen, sondern als Bild der Geschäftswelt, weil sie für mich als Bild fassbarer, verwertbarer sind. Ich habe Gilbert und George nie in braunen Anzügen gesehen. Vielleicht sind die 70er Jahre einfach zu nahe, um verwertbare Bilder zu liefern.

Ich möchte nicht unbedingt von Kleidern auf Architektur schliessen, und auch nicht auf Kunst, aber irgendwo sind diese Dinge da und man kann sie sehen, jedes Haus und wer es gebaut hat, jeden Satz und wer ihn gesagt hat. Der Video-Künstler Marcel Odenbach sagte in diesem Sinn: „Ein Zusammenhang ist da, nicht erklärbar, aber zu erzählen. “

In der Zeit der späten 60er Jahre, in dieser Zeit ohne Bilder in der Architektur, veröffentlichten Aldo Rossi und Robert Venturi, zwei scheinbar so verschiedene Figuren, ihre für die spätere Entwicklung der Architekturszene so wichtigen Bücher „L’Architettura della città“ und „Complexity and Contradiction in Architecture“. Bücher, welche die Architektur in den Vordergrund des architektonischen Diskurses stellen:

Architektur ist Architektur, und nur aus sich selbst zu verstehen, nur aus sich selbst zu bauen. Bei Rossi spielt die Vergangenheit, die Geschichtlichkeit der Stadt, eine entscheidende Rolle – Termini, die dem Denken der 60er Jahre in der Architekturszene völlig fremd waren und bei uns erst seit kurzem gebräuchlich sind; vielleicht zu gebräuchlich, zu wenig spezifisch in ihrem Gebrauch, wie mit der Zeit die langen Haare. Was bei Aldo Rossi ein gescheiter, kulturkritischer Ansatz ist, verkommt mehr und mehr zur blossen Mode. Auch Venturi bezieht sich auf historische Architekturen und Ikonografien, die jedoch von der Porta Pia bis zum McDonald’s-Bogen, zur Reklamewelt der alltäglichen amerikanischen Landschaft reichen.

Damals wurde an der Hochschule in Zürich – 1970 trat ich ins Poly ein – noch das Primat der Soziologie (Lucius Burckhardt auf dem Entwurfslehrstuhl!) gelehrt, war es gang und gäbe, schriftlich abgefasste, getippte Diplomarbeiten abzuliefern, wurde die Arbeit des Architekten in erster Linie als politisch-ökonomische Planung angesehen. In der Stimmung der schliesslich abgebrochenen sogenannten „Versuchsphase“, die im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung an den Hochschulen seit 1968 zu sehen ist, kam Aldo Rossi ans Poly, und in den drei Jahren seiner Tätigkeit beeinflusste er die architektonische Bildung einer ganzen Generation. Bei ihm und Dolf Schnebli – seit 1970 ebenfalls am Poly – wurde intensiv über Architektur gesprochen. Das war und ist für die Entwicklung der Schweizer Architekturszene ein wichtiger Punkt: der Diskurs über Architektur ist in den Vordergrund gerückt.

Im Zuge der Entwicklung der sogenannten postmodernen Architektur, taucht eine Flut von Entwürfen auf, eine Welle von Publikationen. Die Entwürfe sprechen, in Bildern, von vergangenen Architekturen – architecture parlante –, stellen Bezüge her. Für mich ist dieses Herstellen von Bezügen zu bestimmten Architekturen – vor allem des Neuen Bauens, das als letzte einheitliche Bewegung der Architektur angesehen und bewundert wird – eines der wesentlichsten Merkmale der gegenwärtigen Tendenzen. Die Entwürfe werden mit Inhalten gefüllt, Inhalte, die innerhalb von architektonischen Zeichensystemen zu entschlüsseln seien.

Ich weiss nicht, woher das alles kommt, ich suche auch keine Erklärung; ich meine jedoch, einige Indizien zu finden: Wenn, wie der Künstler Alex Silber in einem Gespräch erwähnt, die Kunst der Zero-Leute (Klein, Fontana, Uecker u.a.) Ende der 50er und anfangs der 60er Jahre eine Reaktion auf die mit Inhalten überfüllte Kunst war, Leere, eine Art Strukturalismus im sinnlichen Bereich, so erscheinen mir die 70er Jahre als gegenteilige Reaktion. Die Musik – dieser kleine Exkurs sei erlaubt – zeigt das gleiche Bild. Roxy Music, David Bowie sind Strategen der geschliffenen, manierierten, mit Inhalten gefüllten 70er Jahre Popmusik. Seit kurzem entwickelt sich nun aber die Musik, angefangen bei Punk und Gruppen wie Police und Clash, weniger inhaltslastig, dafür emotionaler und direkter. Auch die bildende Kunst – wie Ausstellungen vor allem der Kunsthalle in Basel und des InK in Zürich deutlich zeigen; ich denke an Helmut Federle, Martin Disler, Urs Lüthi und die sechs Basler, die vor einem Jahr in der Kunsthalle eine spannende Ausstellung machten – weist, im Gegensatz zur Architekturszene, auf das Herstellen von direkteren und stärkeren Bezügen.

Die Architekturszene dagegen nimmt, in ihren rationalistischen Vertretern, eine Haltung des Erklärens ein. Bruno Reichlin hat, z.T. mit Martin Steinmann, anspruchsvolle Texte veröffentlicht, in denen Architektur als Zeichensystem analysiert wird: das Entwerfen wird durchleuchtet, die Genese eines Werks, die bei Edgar Allan Poe, Paul Valery, Wladimir Majakowskij und anderen betonte Technologie des Dichtens, die Entmystifizierung der künstlerischen Tätigkeit, wird auf das Entwerfen übertragen. lch hörte einmal Marie Claude Betrix über den Entwurf einer Fabrik in Cortaillod sprechen (vgl. archithese 1, 1980, S. 48/49). Diese Arbeit ist voll von architekturgeschichtlichen Bezügen, der ganze Bau scheint gleichsam auch in Worten zu existieren. Ich finde, dass es ein guter Bau ist, aber ich habe kein gutes Gefühl bei soviel Erklärung der eigenen Entwürfe, die doch – einmal gebaut – für sich stehen. Nur was da ist, zählt: was als Architektur da ist und sich durch sie vermittelt.

Vielleicht ist diese enge Bindung an vorhandene Architekturen (Fabrikarchitektur des 19. Jahrhunderts, Neues Bauen, gewöhnliche Architektur sind beliebte Bezugspunkte), dieses „sagen“, woher man die Farben und Formen hat – ein Überbleibsel der Transparenz im Planen, die die Soziologiearchitekten der späten 60er Jahre anstrebten. lch weiss es nicht, aber ich sehe diese Haltung rundum bei den bekannteren Vertretern der Architekturszene. In ihrem Vortrag nannte Ulrike Jehle Entwürfe für das Papierwerd-Areal in Zürich, die in ihrer „Ikonografie des Schiffes“ enge Bezüge zur Architektur der 30er Jahre aufweisen. Auch für unsere Arbeit ist das Schiff als Bild wichtig, wie das Riehener Bad und das Studio Frei zeigen. Aber der Entwurf hält sich nicht so eng an ein Vorbild. Architektur sollte nicht nur von einem Vorbild leben. Bezüge zur Architekturgeschichte sind zwar interessant, aber viel wichtiger scheint mir die Frage, was für ein neues Ganzes die verwendeten stilistischen Mittel ergeben.

In unserem Entwurf für Riehen ergeben sie eine für uns spezifische Stimmung von Baden (die vielleicht mit Rheinbadhüsli etwas zu tun hat), eine gewellte, grosse Form (die vielleicht mit dem Leib eines grossen Fisches etwas zu tun hat), mit langen, geraden Baukörpern, die auf die Topografie der Landschaft eingehen. lch meine damit: das Ganze ist ein Ding, das durch seine Existenz auf dem Bauplatz und in der Landschaft seine Qualität erhält, die durch die Detaillierung – hoffentlich – verstärkt und unterstützt wird, ein Ding, wo Bezüge zu bestehenden Architekturen irgendwie einfliessen, sicher, schon im Massstab 1:200, aber nicht im Sinne von architekturgeschichtlich begründeten Bezügen zu einer bestimmten Epoche, sondern emotionaler, auf die Bilder und Erfahrungen unserer Generation bezogen. Das alles ist nicht neu, es ist auch nicht nötig, dass es neu ist. Viele Architekten arbeiten so, und ich möchte versuchen, etwas über uns, über unsere Generation zu erfahren.

lch glaube, die Architektur ruft in uns Erinnerungen an das eigene Leben wach, aber kaum Erinnerungen an die Architekturgeschichte. lch glaube, ihre Wirkung ist subjektiver, oft auch unbewusster. Jean-Christophe Ammann sagt bei den Bildern von Anselm Stalder auch nicht, dieser beziehe sich auf die Malerei der Neuen Sachlichkeit. Er sagt, Anselm Stalder verwende gewisse stilistische Elemente, wenn man so will, verschiedener Epochen. Für mich sind da z.B. Elemente der 20er und 50er Jahre (Farben, Kleidung, Ornamentik) erkennbar – aber sie sind als Material verwendet, um bestimmte Aussagen zu machen, bestimmte Erfahrungen (Angst, Kälte) darzustellen, ein neues, eigenes Bild zu malen.

Das Foto einer Architektur aus den 60er Jahren macht deutlich, was ich damit, auf die Architektur bezogen, meine. Sie zeigt eine nüchterne, kalte Welt, Geschäftswelt, Versicherung oder so. Beim Gedanken, ein Bank- oder Versicherungsgebäude zu entwerfen – was wir schon lange möchten – tauchen solche Bilder auf, solche emotionalen Bezüge, ohne dass die Wahl der Stilmittel – hier 50er, Anfangs 60er Jahre – den Zweck hatte, Bezüge zur Architekturgeschichte jener Zeit zu schaffen. Es sind Bilder, die mit Erfahrungen verbunden sind und die darum in einem bestimmten Zusammenhang genaue Aussagen machen. Wahrscheinlich würde unser Bankgebäude ganz anders aussehen. Ich spreche davon nur als Beispiel für die Art, wie ich Bilder zu verwenden suche. lch denke, für viele Architekten – so auch für uns – sind ihre Arbeiten Mittel, um an sich selbst heranzukommen, sie sind „individuelle Landeflächen“, wie es Alex Silber einmal formulierte. Solche Landeflächen zu erstellen scheint mir ein wichtiges Merkmal unserer Generation zu sein: Das gilt etwa auch für die Bilder von Alex Silber, Vivian Suter und Anselm Stalder. Ich erwähne sie, weil mich die Beziehung zwischen Architektur und Kunst stark beschäftigt, weil ich die Architektur, von der Haltung her, in einer gewissen Analogie betrachte und dennoch von der Kunst klar unterscheide, auf Grund der unterschiedlichen Voraussetzungen, die jede Disziplin aufweist. Das, was die Qualität eines Werkes ausmacht, muss innerhalb dieser Voraussetzungen gesehen und gesucht werden.

Ăśberarbeitete Fassung eines Vortrags von Jacques Herzog in der Kunsthalle Basel, März 1981.