Herzog & de Meuron

Wenn man sich die Bauten von Jacques Herzog und Pierre de Meuron vor Augen hält, so fällt die Uneinheitlichkeit des äußeren Erscheinungsbildes in bezug auf Form, Material und Charakter auf. Dieser Eindruck stand im folgenden Gespräch begleitend und fragend im Hintergrund.

Theodora Vischer: Für die Entwurfsarbeit nach dem Neuen Bauen der Moderne und Spätmoderne sind zwei Postulate – von Rossi formuliert und in der Architekturkritik bis heute immer wieder genannt – impulsgebend geworden, nämlich die Forderung, auf die Strukturen der Stadt, auf den Ort, einzugehen, sowie die Architekturgeschichte als Material für das Entwerfen einzubeziehen. Inwieweit sind die beiden Forderungen oder Impulse auch für Euch gültig, und was habt Ihr daraus gemacht?

Jacques Herzog: Der Ort hat seit jeher bei den Theoretikern und Architekten als wesentlicher Ausgangspunkt des Entwurfs gegolten. Bei Rossi hat dieser Bezug zum Ort eine ganz eigene Ausrichtung erfahren. Er hat versucht, den Ort mit einer gewissen Wissenschaftlichkeit zu bezeichnen, und zwar mit dem Begriff der Typologie.

Wir haben bei Rossi studiert und haben diese Dinge bei ihm gelernt. Wir haben bei Rossi aber noch etwas ganz anderes mitbekommen, das ist seine charismatische Persönlichkeit, die eine Art energetischen Impuls vermittelte, der für uns vielleicht noch viel entscheidender war in der Hinsicht, daß er uns selbst unsere eigenen Erfahrungen mit dem Ort zu entwickeln half, uns scharr machte auf Architektur letztlich.

TV: Wenn Du sagst, Eure Erfahrung mit dem Ort habe Rossi angeregt, dann heißt das auch, daß es Euch nicht rein formal um solche Strukturen geht.

JH: Ganz richtig. Wir haben den Begriff des Ortes sicher ausgeweitet. Wir haben begonnen, verschiedene Aspekte eines Ortes zu sehen, zu spüren, einzubeziehen. Unsere Erfahrung ereignet sich auch vor einem ganz anderen Hintergrund als die von Aldo Rossi. Während Rossis Erfahrung von der lombardischen Landschaft geprägt ist, sind wir sehr stark geprägt von der Situation in der Schweiz, in Basel im Speziellen, wo eben ganz andere Bilder auftauchen.

Das Stichwort des Bildes war für uns plötzlich irgendwie da als Motiv, das wir – aus unserer Erfahrung gewonnen – vielleicht zu Beginn etwas collageartig in die Architektur einzubringen versuchten. Wir haben dann auch früh von Film zu sprechen begonnen, von Filmbildern, das heißt wir mußten darauf verweisen, daß ein großer Teil unserer Erfahrung, unserer mangelnden Tradition aufgewogen wird durch eine Erfahrung von Stadt, von Ort, wie er in Filmen vermittelt wird.

Die Frage ist ja auch, weshalb kommen überhaupt diese Bilder. Sicher spielt dabei unsere Erziehung, das heißt unsere Ausbildung als Architekten vom Kopf her, eine Rolle. Wir kommen nicht aus einer handwerklichen Tradition heraus, sondern sind es gewohnt, etwas mit dem Kopf zu entwickeln. Als wir bei den ersten Gebäuden, die wir machen konnten, versuchten, gewisse Details einzubringen, die wir eben von Bildern her abgeleitet hatten, irgendwelche Ideen für Türgriffe oder Türen und Fenster usw., als wir also mit diesen bildhaften Zeichnungen von Details zu den Handwerkern gingen, merkten wir, daß diese Sachen tatsächlich nicht mehr der realen Welt entsprachen. Da wurde uns bewußt, daß ein Bruch besteht zwischen diesen bildhaften Situationen, die wir im Kopf haben, und der realen Welt oder der üblichen Produktion von Architektur.

TV: Das Reden über diese Bilder hat immer etwas Diffuses an sich. Könnten wir noch ein wenig präziser über sie sprechen?

JH: Es ist tatsächlich so, daß das eine ganz diffuse Sache ist. In unseren ersten Projekten, dem Fotostudio Frei in Weil und dem Hallenbad-Projekt für Riehen, sind diese diffusen Vorstellungen von Bildern noch sehr prägend, während in den neueren Bauten dieses Ausweiten des Verständnisses vom Ort viel konkreter und präziser zum Ausdruck kommt. Das Diffuse äußert sich darin, daß diese Gebäude einen etwas heterogenen Eindruck machen, daß die verschiedenen Fassaden fast verschiedenen Gebäuden oder Stilen anzugehören scheinen. Das hat damit zu tun, daß wir tatsächlich mit diesen Bildern operierten und daß wir die Architektur, die man irgendwohin setzt, als Baukörper zuerst erfahren mußten. Wir mußten das Bild in uns wieder verdrängen lernen. Wir wollten letztlich eine Architektur herstellen, wo das Bild nur noch als Erinnerungsmoment irgendwo auftauchen kann, aber nicht mehr so direkt appliziert wird. Zu Beginn interessierte uns dieses direkte Verwenden, weil wir eigentlich – im Fall vom Fotostudio Frei zum Beispiel – diese Vorbilder unmittelbar verdoppeln wollten. Wir wollten uns umgeben mit diesen von uns auch geliebten Bildern.

Wichtig ist, daß wir schon damals – mit diesen eher disparaten Bildern – versuchten, nach verschiedenen Richtungen Bezüge zu dem unterschiedlich strukturierten Ort herzustellen.

TV: Ihr wolltet also nie eine künstliche Identität oder Ganzheit suggerieren.

JH: Richtig.

TV: Wir haben bisher eher allgemein über den Ortsbezug gesprochen. Nun lassen sich ja die einzelnen Bezugsebenen konkreter benennen. Ich weiß nicht, ob man den Auftraggeber dazu zählen kann, sicher den topographischen Bezug wie zum Beispiel in Laufen oder im Projekt Schwarz Park oder typologische Vorbilder wie die Baracke.

JH: Ich glaube, das kann man gar nicht voneinander trennen. Das Ausweiten vom Bezug als Ganzes ist das zentrale Moment. Es geht darum, sämtliche Aspekte, die uns zu der Zeit, wo wir das jeweilige Projekt machen, auch zugänglich sind – denn wir sind ja auch immer blind für sehr viele Sachen –, also möglichst viele Aspekte eines Ortes wie den topographischen, den geologischen, die benachbarten Gebäude, die Wünsche oder Bedürfnisse eines Bauherrn, mit unseren Empfindungen aufzunehmen, zu begreifen und einzubringen in eine Art forschenden, experimentellen Entstehungsprozeß. Wir versuchen zum Beispiel Bildvorstellungen, wie sie von Gebäuden herkommen, zum Beispiel eben einer Baracke, in eine Beziehung zu bringen mit der Fertigungsart einer Baracke, also der Teile, aus denen die Baracke im konkreten Fall gebaut ist, dann Kräfte zu entwickeln, die diesem Bild entgegen wirken, um am Schluß nicht einfach wieder dieses Bild zu haben, sondern von diesem Bild wegzuführen zu anderen Elementen des Ortes.

Je nach Ort werden andere Aspekte wirksam und geben den Gebäuden schließlich ihren spezifischen Charakter. Es ist uns wichtig, daß wir für einen Ort eine Architektur finden, die die Stadt wenn möglich vervollständigt. Wir haben nicht das Bedürfnis, Neugründungen aufzustellen, sondern wollen vorhandene Ansätze aufnehmen, um die Stadt zu ergänzen.

Die Haltung, verschiedene Sachen einzubeziehen, auf einen Stil zu verzichten, kommt seit einigen Jahren auch bei anderen Architekten zum Tragen, vielleicht auch unter dem Einfluß von Venturi. Anders als es bei Venturi gefordert wird, können wir Architekturen verwenden, die von ihrer bildhaften Erscheinung her einer viel rigideren Zeit angehören. Ein Beispiel ist das Projekt Schwarz Park, das wir jetzt bearbeiten. Aus der Auseinandersetzung mit der topographischen und geologischen Situation hat sich eine eher suchende Form entwickelt, eine Großform, die in die Natur ausgreift, die nicht einen von außen gebauten, sondern einen von innen sich bildenden Körper darstellt. Man könnte diesen Entwurf für sich genommen aber auch in einer Beziehung sehen zum Stil der städtischen Großformen, wie sie von Mies van der Rohe, Poelzig und anderen herkommen, die in ihrer fortschrittsorientierten Denkweise natürlich den Ort ganz anders strukturiert hätten als wir. Aber wir verwenden diese Architektur, weil sie genau eben an diesem Ort einen Sinn macht. Aus diesem Ort heraus entwickelt, trägt sie dieses Fragende in sich, obwohl sie von der Monumentalität her und von den Bildern, die sich auf den ersten Blick damit verbinden, einer Zeit angehört, wo mit solchen Architekturen eine Art Fortschrittlichkeit einer modernen aufbrechenden Zeit verbunden war. Äußerlich
gesehen also ein scheinbarer Widerspruch.

TV: Mit dieser letzten Überlegung sind wir bei der Frage nach Eurem Umgang mit dem anderen Postulat neben der Forderung nach einem Bezug zum Ort angekommen, nämlich mit der Forderung, Architekturgeschichte in die Entwurfsarbeit aufzunehmen. Aus Deinen bisherigen Ausführungen ist schon klar geworden, da für Euch eine postmoderne Haltung nicht von Interesse sein kann. Aber gibt es nicht doch eine Tradition, und zwar die fünfziger Jahre, diese „Spätmoderne“, die für Euch besonders viel hergibt?

JH: Ich glaube, daß die Postmoderne als stilistisch verstandenes Verhalten für uns wirklich nie ein Thema war. Aber wir spüren natürlich wie alle Menschen, die heute leben, die Bruchstellen unserer Kultur, das heißt die Unmöglichkeit, Dinge klar zu benennen. Auch wir sind mit diesem Uneindeutigen, das uns in allen Gegenständen umgibt, konfrontiert; es ist ein zentrales Motiv in unserer Arbeit geworden. Wir können uns auf nichts verlassen, auf kein Baumaterial, auf keine herkömmliche Bauweise und tradition, weil eigentlich diese Sachen fortwährend unbrauchbar geworden sind. Im Falle der Architektur ist es so, daß auch die Architektur der fünfziger und sechziger Jahre bereits historische Architekturen sind, daß wir sie also nur noch als Bilder einsetzen können. Die ganze Technologie hat sich seither so entwickelt, daß eine direkte Bezugnahme zu unbefriedigenden Ergebnissen führt. Man kann im Film mit diesen Bildern operieren, weil auf der Leinwand die Ungenauigkeiten oder die nicht ganz zutreffenden Details ja verwischt werden können, man kann diese Bilder also vermitteln. Aber in der Architektur, wo man das nachbauen muß, ist das nicht möglich.

TV: Haben aber die fünfziger Jahre, die doch eigentlich noch Eure eigenen Erfahrungsräume sind, nicht gewisse „richtige“ Elemente in sich, die für Euch direkte Gültigkeit haben können, ohne daß es Versatzstücke sein müssen?

JH: So gesehen bin ich völlig einverstanden. Die fünfziger Jahre sind eine Zeit, die uns viel näher ist, und die wir deshalb von den Bildern her richtig verstehen können. Diese Sachen sind ja auch noch intakt, sie haben uns tagtäglich umgeben. Solche Bauten haben ja auch in einem fast naiven Sinn eine Fortschrittsgläubigkeit in sich.

TV: Es besteht ja ein merkwürdiger Zwiespalt zwischen dieser Fortschrittsgläubigkeit und einer gewissen
Miefigkeit, einem Konservativismus, der sich in dieser Architektur konzentriert. Ich könnte mir vorstellen, daß in dieser Zwischenposition für Euch auch ein Einsatzpunkt liegt.

JH: Das ist ganz richtig. Dieses Zwiespältige hat uns sehr lange fasziniert. Ich muß auch sagen, daß diese Gebäude zum Teil eine erstaunliche Qualität haben, die ich bei weitem der reaktionären Bauweise, wie sie dann in den siebziger und den frühen achtziger Jahren eingetreten ist, vorziehe. Es gibt bei uns also durchaus eine Faszination für diese Architektur. Entscheidend aber ist, daß wir all diese Sachen trotz allem neu erfinden müssen, denn es reicht ja nicht, wenn wir uns einfach auf die fünfziger oder sechziger Jahre beziehen.

TV: Was heißt es jetzt konkret für das Entwerfen und Bauen, wenn einerseits der Ort mitbestimmend wird und der Glaube an die technologische Ästhetik als formbestimmende Kraft schwindet, und wenn andererseits nicht bestimmte historische oder typologische Vorbilder dieser neuen Situation antworten können, sondern ihr eher Stimmungsbilder entsprechen? Mit welchen Mitteln ist die Umsetzung eines ganzen, mehr stimmungshaften Bildes in ein neues ganzes, architektonisches Bild herzustellen? Als Stichwort drängt sich die Frage nach dem konzeptionellen Anteil in eurer Arbeit auf.

JH: Pierre und ich versuchen bei jedem Projekt zuerst diese konzeptionelle Ebene zu finden. Das ist natürlich nicht eine genau rekonstruierbare Tätigkeit, sondern plötzlich ist irgendein Ansatz da. Zum Beispiel wurde im Fall des Projektes Schwarz Park der Wunsch, den Hang im Gebäude stereometrisch weiterzuführen, mit den ersten Zeichnungen immer stärker. Wir merkten, daß sich mit dieser anfänglichen Idee sehr viele Gedanken verknüpfen lassen, ein Beziehungssystem aufbauen läßt. Das sind ja sehr intuitive Momente des Entwurfs. Ebenso war es in Therwil mit der Idee des Hofs als öffentlichem Teil und dem ihn überlagernden, eher privaten Teil in Form einer Baracke.

TV: Nehmen wir das Beispiel dieser „Baracke“. Das Haus ist keine Barackemehr – es erinnert noch schwach an diese Bauform – und nimmt jetzt innerhalb dieser Anlage eine ganz spezifische Position ein. Da liegt ja ein konzeptioneller Vorgang dahinter.

JH: Dieses Konzeptionelle ist uns wichtig, unter anderem weil es uns ermöglicht, je länger ein Entwurfsprozeß dauert, eine Arbeit zu verdichten, also eine Qualität zu verdichten, Möglichkeiten, die wir spüren, verstärkt einzubringen – bis hin zum Bodenbelag. Diese Teile sind dann immer sozusagen kreislaufartig auf die ganze Sache rückführbar.

Im Fall von Therwil dachten wir am Anfang daran, ein vorfabriziertes Gebilde obendrauf zu stellen. Dann merkten wir, daß dieses als Fremdkörper, als eine Art objet trouvé, als Versatzstück, dem diametral entgegenläuft, was wir an diesem Ort wollten. Es führt ein Weg von diesem Hof bis in das Haus hinauf, nicht nur tatsächlich, sondern auch von den Materialien her. Wir haben verschiedene Erscheinungsformen des Materials Beton als Gestein dargestellt, nicht weil wir besonders am Beton interessiert sind, sondern weil uns dieses Material die Möglichkeit gab, den zusammenhängenden Aufbau dieses Ortes zu definieren. Das Bild einer Baracke wurde immer mehr zu einem Gebilde aus Holzbrettern und vorfabrizierten Betonbrettern, die strukturell mit den Holzbrettern ebenso verwandt sind wie mit der Architektur des Hofes und der Sockelzone. Je länger wir uns mit dieser Betonthematik auseinandersetzten, umso mehr hat sich das Bild der Baracke verloren gegenüber einer Strukturidee. Schließlich wurde uns diese Baracke tatsächlich unwichtig und wir haben uns freier gegenüber diesem Bild bewegen können. Dieser Prozeß ist wichtig geworden in unserer Arbeit, im Vergleich zum Beispiel zum Fotostudio Frei, wo die Bilder eher noch in einer anekdotischen Form vorhanden sind.

TV: Diese Entwicklung, die wegführt von einem eher anekdotischen Umgang mit Bildern hin zu architektonischen Bildern, die eine Struktur darstellen, verschiebt das Gewicht vom bildhaften Einzelteil auf das architektonische Ganze. Ein Teil ragt nicht mehr so heraus, daß er sofort eine nur ihm zugehörige Assoziation hervorruft, sondern die Beziehung zwischen den einzelnen Teilen wird wichtig und schafft das architektonische Bild.

Mich würde es interessieren, wie Du – als Kontrast zu Therwil – die Lagerhalle in Laufen, diesen monumentalbruchlosen, wie eine Behauptung wirkenden Bau als architektonisches Bild charakterisierst?

JH: Das Lagerhaus ist in verschiedener Hinsicht ein spezieller Bau, vor allem wegen dem Umstand, daß wir
uns mit dem Innenraum nicht auseinanderzusetzen hatten. Trotzdem möchte ich sagen, daß auch bei diesem Bau sämtliche Teile auf Beziehungen angelegt sind, zum Ort und zum Inhalt des Gebäudes. Wenn man das ganze Gebäude vor sich sieht, hat es etwas von einem Industriegebäude aus dem19. Jahrhundert, vom Gesamtbild her ist es sicher als Industriearchitektur erkennbar. Dieses Bild zerfällt dann ziemlich stark, wenn man näher kommt. Die ganze Struktur, die dann sichtbar wird, ist der Idee der Bretterbeige untergeordnet, indem das Tragen und Lasten der einzelnen Teile gezeigt wird. Dieses Bild von Tragen und Lasten findet aber tatsächlich auch statt. In diesem Bau ist ein Zusammenfallen von darstellenden und dargestellten Elementen angestrebt, wie wir das noch in keiner anderen Arbeit in solchem Maße durchgeführt haben. Das Schichten verweist natürlich auch auf den natürlichen Boden – das Kalkgestein eines alten Steinbruchs –, auf den diese Last direkt abgegeben wird. Das Lasten, das durch den Bau ausgedrückt wird, soll diesen Boden ins Spiel bringen. Zudem ist Kalkstein ja ein sedimentäres Gestein, das in Schichten abgelagert wird, was eigentlich dem Bauprinzip im Lagerhaus entspricht. Auch in Laufen ist also in vielfältiger Weise ein klarer Ortsbezug vorhanden, auch wenn in bezug auf den Bautyp vielleicht eine neue und spektakuläre Sache entstanden ist.

Das Zusammenfalten von darstellenden und dargestellten Elementen verstehe ich als eine Qualität, die in der Skulptur seit den sechziger Jahre, zum Beispiel bei Serra, aufgetaucht ist, und die in der Architektur sicher einmal selbstverständlich vorhanden war. Diese Identität ist in der Architektur verlorengegangen, und wir suchen sie ganz stark.

TV: Gegenüber einem alten Bild, das vielleicht am Anfang eines Entwurfsprozesses steht, entstehen mit Euren Architekturen neue Beziehungsgefüge, die nicht mit der Summe der analysierten Teile identisch sind. Symptomatisch dafür scheint mir Eure Auffassung vom Modell zu sein, die das Modell eigentlich schon am künftigen, sinnlichen Beziehungsgefüge mitarbeiten läßt.

JH: Zu Beginn hatten wir unglaubliche Probleme mit dem Modell als Idee oder als Gegenstand. Wir hatten vor allem Probleme mit diesen bekannten großmaßstäblichen Modellen, die weiß gestrichen sind, und auf die wir als Riesen sozusagen hinunterblicken. Damit wurde die ganze Bilderwelt, die für unsere Architektur entscheidend ist, reduziert auf eine rein stereometrische, uniforme Aussage, welche für unsere Haltung nicht in erster Linie relevant ist. Zu Beginn hatten wir das so radikal zu formulieren versucht, daß wir diese ganzen Fragen von „Jeux et volumes sous la lumière“, die von Le Corbusier kommen, die die Architektur als stereometrisches, volumetrisches Spiel begreifen, bewußt von uns wiesen. Tatsächlich ist es natürlich so, daß Fragen von Geometrie, von Mathematik und von Proportionen ganz wichtig sind, auch in unserer Arbeit. Aber grundsätzlich kamen diese Modelle für uns nicht in Frage. Deshalb haben wir begonnen, mit speziellen Fotografien und Videos zu arbeiten. Wir fabrizierten Modelle speziell für Video-Aufnahmen. Die Bilder, die wir dann erhielten, verwiesen auf die Bilderwelt, aus der sie gekommen sind oder zum Teil gekommen sind, nämlich aus der medialen Welt, in die die von uns gemachten Architekturbilder dann wie in einen Bilderfluß, der Teil der Erfahrung des Betrachters ist, eingehen konnten.

TV: Für mich ist bei diesen Foto und Video-Modellen nicht der Verweis auf die bestehenden Bilder das Entscheidende, sondern die Tatsache, daß schon im Modell Eure neue Architektur zu einem erfahrbaren Raum oder Bild wird, daß also das Modell nicht als Modell behandelt wird, sondern schon als Realität.

JH: Dazu gehört auch, daß das Gebäude in einem solchen Modell als Teil eines Handlungsablaufs erscheint, in einen dynamischen Prozeß eingeht und nicht in einen statischen. Das Konfrontiertsein
mit dem Modell als Objekt ist eine Sache, die uns jetzt zunehmend interessiert. Wir haben begonnen, mit größeren Modellen zu arbeiten, die von der Struktur und von den Materialien her einen Bezug zum späteren Projekt aufweisen.

TV: Kannst Du das an einem Beispiel beschreiben?

JH: Nehmen wir als Beispiel das Modell für das Projekt Schwarz Park. Wir sind da von einem Sockel aus Sperrholz ausgegangen und haben aus diesem Sockel die Formen des Gebäudes herausgeschnitten, so daß die konzeptionelle Idee des Gebäudes, das sich aus dem Hang entwickelt, erfahrbar wird im Schichtungsprinzip aus den verleimten Sperrholzteilen. Sperrholz ist ja selbst ein in Schichten verleimtes
Material. Damit realisiert das Modell selbst, in anderer Weise als ein Video-Model, einen Aspekt des Entwurfs.

Letztlich ist für uns entscheidend, daß jeder Gegenstand, den wir herstellen, also auch die Zeichnungen oder das Modell, von seiner eigenen Bild oder Materialstruktur her ein Teil der ganzen späteren Architektur ist, also in sich die konzeptionelle Idee erfahrbar macht, und nicht nur als Abbildung dient. Auch damit versuchen wir, die Distanz zwischen dem Medium oder der medialen Erfahrungswirklichkeit und dem Erfahrenden, die für unsere Zeit so prägend ist, zu überwinden.

TV: Werfen wir an dieser Stelle einen Blick auf Dein Verhältnis als Architekt zur bildenden Kunst. Gerade in der Modellauffassung, wie wir sie besprochen haben, scheint mir diese Verbindung exemplarisch greifbar. Es gibt natürlich den grundsätzlichen Unterschied zur bildenden Kunst, der darin besteht, daß Architektur von vornherein immer für bestimmte Funktionen entworfen wird, während bildende Kunst funktionsungebunden ist. Abgesehen davon scheint mir in dieser Modellauffassung ein anderer entscheidender Unterschied zwischen Architekten und bildenden Künstlern aufgehoben zu werden: der Unterschied vom Architekten als Modellbauer und dem Künstler, der 1:1 arbeitet. Kann man sagen, daß Deine Faszination für die bildende Kunst in ihrer kategorial begründeten Qualität liegt, einen unmittelbaren und unvermittelten Erfahrungswert zu realisieren?

JH: Es gibt sicher verschiedene Verbindungspunkte zwischen unserer Architektur und der bildenden Kunst. Ich habe mich zuerst gegen dieses Verbinden von Architektur und bildender Kunst gewehrt. Dann habe ich gemerkt, daß all diese Trennungen, die wir in unserer Kultur vornehmen, nicht unbedingt in der Sache selbst begründet sind.

Eine der Auswirkungen der Bruchsituation, in der wir uns heute befinden, ist, daß die ganze handwerkliche Basis, ganze Traditionen verloren gegangen sind, und daß wir eigentlich mit jedem Bau in der beschriebenen komplexen Weise eine neue Sache entstehen lassen müssen. Wir sind viel stärker an einer Neuschöpfung, auch wenn sie sich auf traditionelle Bilder bezieht, beteiligt, als Architekten es je waren. Insofern sind wir tatsächlich in einer sehr ähnlichen Situation wie ein Maler oder ein Bildhauer. Das ist ja auch ein Grund, weshalb noch nie so viele schlechte Architektur entstanden ist, weil eigentlich nichts mehr zur Verfügung steht. Es ist eine völlig desorientierte Situation für einen Architekten.

Deine Sicht, daß Du in unserer Modellauffassung das Bedürfnis siehst, an der Sache selbst zu arbeiten, also nicht Stellvertretungen herzustellen, finde ich sehr interessant. Das Überwinden dieser Distanz ist für uns ein entscheidendes Anliegen.

TV: Dazu gehört sicher auch, daß Ihr nicht die einzelnen Teile für sich bearbeitet und sie dann zusammenkittet, sondern daß immer schon die Beziehung zum Umfeld gesucht wird. Wie siehst Du in diesem Zusammenhang Euren Entwurf für einen Marktplatzbrunnen in Basel?

JH: Es gibt Arbeiten von uns wie das Brunnenprojekt, wo man zunächst annehmen könnte, das sei eher eine der Bildhauerei verwandte Arbeit, während ein Wohnblock, wo die funktionellen Aspekte scheinbar im Vordergrund stehen, sicher eine weniger skulpturale Arbeit darstellt. Was die Arbeit des Architekten unterscheidet vom bildenden Künstler, eben dieser Umgang mit dem Angewandten und Funktionellen, ist eigentlich nicht das, was uns wesentlich einschränkt, oder was den Unterschied zur bildenden Kunst unüberwindbar macht. Was uns wesentlich behindert, ist nicht, daß wir Türen müssen auf und zumachen können, sondern es sind diese Schwierigkeiten, die in der Zeit enthalten sind. Es ist dieser Mangel an Identität, und der ist natürlich bei einem Wohnhaus gleich stark wie bei einem Brunnen oder einer anderen Aufgabe.

TV: Wir haben gesehen, daß das Wie, also die konzeptionelle Arbeit, bei Euch immer mehr in den Vordergrund rückt. Welchen Stellenwert haben die Materialien, die Ihr ja sehr breit, auffäIlig und differenziert einsetzt?

JH: Wir versuchen, die Ausweitung des Begriffes vom Ort auch auf das Material auszudehnen. Wir versuchen, die den Materialien im traditionellen Gebrauch zugedachte Rolle auszuweiten, indem wir sie in veränderter Form einer neuen Betrachtungsweise zugänglich machen, um so auch eine neue Spannung am Ort zu bekommen.

TV: Es gibt also keine grundsätzlichen Qualitäten, die ihr den einzelnen Materialien zuordnet, sondern es ist auch hier die Situation, in der ein Material eingesetzt wird, ausschlaggebend für den spezifischen Charakter, den es dann ausstrahlt?

JH: Es ist schon so, daß uns alle Materialien genau gleich interessieren. Wenn man von Material spricht, kommt es ja immer darauf an, wie es zusammengefügt, in welcher Art es verwendet wird.

Nehmen wir zum Beispiel das Material Stein. Im Steinhaus in Tavole ist der Stein in einer der Natur gegenüber sehr versöhnlichen Art eingesetzt. Die Steine sind ein Teil der künstlichen Natur dieser Landschaft, sie sind in der gleichen Art wie die Treppchen in den Olivenhainen aufgeschichtet, ohne Mörtel. Jeder Stein ist eingefügt in die geometrische Struktur des Hauses. So gesehen ist der Stein wie Farbe verwendet, darin verwandt etwa der Farbe im Blauen Haus oder in Dagmersellen. Im Theaterprojekt von Visp, in dem wir eigentlich die gleiche Gebäudestruktur entwickelt haben wie in Tavole, mit diesen kontrollierenden geometrischen Betonstrukturen und den in sie eingefüllten Steinen, hat der Stein einen viel aggressiveren Charakter. Jeder Stein verweist hier auf die verlorengegangene Situation des Ortes, wo mit einer unverständlichen Beliebigkeit und Grobheit Quartiere hingestellt werden, die zum Ort und zu den traditionellen Architekturen des Ortes in keiner Beziehung stehen. In Visp wirkt diese Struktur wie ein Findling.

TV: Du hast auch schon von einer poetischen Qualität des Materials gesprochen, von den unsichtbaren Qualitäten des Materials. Ist das so zu verstehen, daß eben je nachdem, wie das Material eingesetzt wird, es ganz unerkannte Qualitäten zeigen kann? Oder gibt es auch so grundsätzliche Qualitäten, die Du den einzelnen Materialien zuordnest?

JH: Nein, die Qualität liegt im Werk selbst, bei welchem das Material einen spezifischen Wert erlangt, der seine bloße Materialität hinter sich läßt. Das ist ja beinahe ein Axiom in der bildenden Kunst, sei es Farbe in der Malerei oder irgendwelche Stoffe in der traditionellen Bildhauerei. Was uns darüber hinaus interessiert, ist, daß ein Teil dieser geistigen Qualität darin liegt, daß das Material nicht mehr nur darstellendes Mittel ist und damit auf die sichtbare Oberfläche beschränkt bleibt. Zunächst erfährt es eine weitere Zerlegung: ein Versuch, gleichsam in die atomare Struktur des Materials zu gelangen, da wir dem äußeren Erscheinungsbild des Materials selbst sowenig vertrauen, so wenig Selbstverständlichkeit abgewinnen können, wie wir es vorhin im Zusammenhang mit der fehlenden Identität in unserer Kultur schon erwähnten. Wir haben es ja mit Festkörpern zu tun, welche also eine kristalline Struktur haben, im chemischen Sinne gesehen. Diese Kristallstrukturen, welche eine Art räumliches Abbild der Kräfte, die zwischen den einzelnen Atomen wirksam sind, darstellen, sind von bloßem Auge nicht sichtbar. Dennoch sind sie eine Realität und eröffnen Zugang zu Eigenschaften der Materialien, welche interessanter und komplexer sind als in der üblichen Verwendungsweise in der Bauindustrie oder als es die Gestalter der Moderne unter dem Begriff der Materialgerechtigkeit verstanden. Wie weitgehend wir je solche Überlegungen zu Materialien in eine architektonische Arbeit konkret einbringen können, wird man ja noch sehen. Ansätze dazu gibt es etwa beim Haus in Therwil, wo die verschiedenen Erscheinungsformen von Beton eine Art Zerlegung erfahren, oder beim Projekt Schwarz Park, wo die Form des Gebäudes als geometrischer Ausdruck der Naturform des Orts verstanden werden kann.

TV: Kehren wir noch einmal zurück zum Ausgangspunkt unseres Gesprächs, dem uneinheitlichen Erscheinungsbild Eurer Bauten. Im Verlauf des Gesprächs ist der Eindruck der Uneinheitlichkeit verblasst gegenüber einer Haltung, die man sehr allgemein mit dem Stichwort der „Beziehungshaftigkeit“ benennen könnte. Das Klima, indem diese Haltung Äußerungen hervorbringt, ist geprägt von einer Ambivalenz zwischen Anpassung und Setzung.

JH: Dieser Eindruck entspricht unserer Sicht der Bauten und unseren Absichten. Ich glaube, daß es Orte gibt, die schon so stark vorbestimmt oder vorstrukturiert sind, daß ganz untergeordnete, einpassende Eingriffe, die den Ort nur Leicht akzentuieren, richtiger sind als ein lautes Auftreten, und andere Orte, wo eben mehr passieren soll, oder wo – wie im Fall der Wiener Siedlung – eigentlich nichts vorhanden ist, wo eine Art Neugründung stattfindet. Aber auch diese „Neugründung“ verweist wiederum auf die Situation der Siedlung, die an der Peripherie der Stadt liegt, wird also viel eher ein Schlüssel zum Verständnis für den Ort, für die Topographie, für die Umgebung und für die Stellung zur Stadt, als daß sie versucht, eine neue eigene Zentralität aufzubauen.

TV: Kann man in diesem Pendeln zwischen Anpassung und Setzung, in der Tatsache also, daß jeder Bau nur an dem Ort, wo er ist, sein kann, das verbindende Element Eures Arbeitens sehen, wovon die „uneinheitliche Erscheinungsweise“ geradezu ein notwendiger Ausdruck ist?

JH: Ja, absolut. Es gibt nicht das Aufbauen von Typen, die collageartig sich anderswo anpflanzen lassen, diese Markenprodukte. So etwas ist undenkbar, auch wenn es natürlich innerhalb unserer Arbeit wiederkehrende Motive gibt, die an verschiedenen Orten auftauchen können.

TV: Ihr entwickelt also keinen neuen Stil, in dem Sinn auch keine neue Utopie, sondern ihr setzt Euch mit dem Vorhandenen in einer bestimmten Weise auseinander. Diese Haltung ist nicht resignativ, sie ist aber auch nicht rein affirmativ. Könnte man sagen, daß in Eurer Arbeit etwas entwickelt wird, das sich auf eine „realistische Ganzheit“ hin orientiert, das nach einer auf Erfahrung beruhenden Integrität sucht?

JH: Unseren Versuchen, Beziehungssysteme aufzubauen, liegt letztlich ein aufklärerisches Moment zugrunde. Ich meine damit die Möglichkeit, in diese Architekturen einzudringen, zu erkennen, daß diese Systeme, die wir im Entwurf verwenden, was die Konzeption, Struktur, Farbe, äußere Form usw. betrifft, eigentlich Kreisläufe bilden, die zu immer neuen Gesichtspunkten führen. Aufklärerisch ist, daß die Entwicklung einer Architektur sich aufschlüsseln läßt, daß sie sich umkreisen läßt, daß sie langsam eine Identität zeigen kann dank der gestellten Fragen. Aufklärerisch ist der tastende, formsuchende Charakter, den auch die letzte, die gefundene Form noch ausdrückt.

Vielleicht ist damit auch ein Stück Utopie, oder wie man das dann nennen will, verbunden. Ich glaube, daß wir versuchen, ein Stück Realität herzustellen, das abbaubar ist, wenn man so will, also verständlich wirkt. Weil wir ja von so vielen Dingen und Geschehnissen umgeben sind, welche wir gar nicht aufschlüsseln können, zu denen wir keinen Zugang haben, stellen wir einen Gegenstand her, der eine ihm eigene Sprache anbietet. Dieses Anbieten von Sprache drückt eine Hoffnung aus. lnsofern ist das eine utopische Haltung, das aufklärerische ist ja immer auch ein utopisches Verhalten, nicht ein resignatives. Und es ist weit davon entfernt, ein affirmatives Verhalten zu sein.