Herzog & de Meuron

Dieser Text entstand als Beitrag fĂĽr ein Symposium in der FundaciĂłn Arquia in Madrid, organisiert von Luis Fernández-Galiano. Die Symposiumsteilnehmer:innen wurden gebeten, im Vorfeld einen kurzen Beitrag zu schreiben, welcher die wichtigsten Themen unserer gegenwärtigen Architekturpraxis thematisiert. Daraus wurde dann eine „Breve Carta“ – die ich nach der Präsentation in Madrid vom 30. November noch um einige praktische Beispiele ergänzte. Die ĂĽbrigen Symposiumteilnehmer:innen: Rafael Moneo, Fuensanta Nieto, Juan Navarro Baldeweg, Antonio Ortiz, Carme PinĂłs, Emilio Tuñón, Eduardo Souto de Moura.

Querido Luis,

Was können wir Architekt:innen tun in dieser Zeit, die bestimmt wird durch Krieg in Europa, durch soziale Ungleichheit und durch ökologische Umwälzungen, die das Leben in weiten Teilen auf diesem Planeten essentiell bedrohen?

In diesen Themenbereichen müssen wir dringend Antworten suchen und Lösungen finden. Dringend und ohne Eigennutz: Weil wir als Architekt:innen dazu gesellschaftlich verpflichtet sind. Dringend und aus Eigennutz: Denn falls wir dies verpassen, fallen wir aus der Zeit, werden irrelevant.

Hatte sich Architektur in den letzten Jahrzehnten vorwiegend ĂĽber Form, Stil, Positionen und Programme definiert, erleben wir nun eine radikale Zeitenwende. Mit anderem Fokus. Dies zu erkennen, ist das eine. Nun mĂĽssen wir nachhaltige Ergebnisse erreichen. Nicht nur das ĂĽbliche Gerede und Greenwashing. Das ist eine Herausforderung. Wir lernen noch immer, wie das geht.

Hier eine kleine Auslegeordnung, ein paar Beispiele aus unserer Praxis:

Der Krieg

24. Februar 2022. Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine. Landesweite Bombardierung. Drohungen und Hassreden des Kreml gegen den Westen. Propaganda und hybride KriegsfĂĽhrung. Das ganze Arsenal, inklusive atomarer Drohkulisse. Nicht irgendwo, sondern bei uns, in Europa.

Wir hatten zu diesem Zeitpunkt zahlreiche Projekte in Russland und in seinen Teilrepubliken auf unseren Arbeitstischen. Hervorgegangen aus internationalen Architekturwettbewerben. Grosse interne Teams, seit Monaten im Produktionsmodus. Unterschriebene Verträge über viele Jahre. Darunter die Erweiterung von Moscow City mit Parks und zahlreichen Gebäuden. Darunter Projekte mit einer Bauherrschaft, für die wir seit vielen Jahren arbeiten und freundschaftliche Beziehungen aufgebaut hatten. Wir wussten sofort: Das ist nun alles vorbei.

Eine Woche später hatten wir nach mühsamen Gesprächen und komplizierten juristischen Verhandlungen die Verträge aufgelöst. Unsere Teams umgruppiert und anderen Projekten zugeordnet. Gespräche mit russischen und ukrainischen, polnischen und ungarischen Mitarbeiter:innen geführt. Sehr viele davon waren sehr emotional.

Geschäftsbeziehungen von Architekt:innen sind kein Warenhandel. Sie sind aufgebaut auf freundlichem, bisweilen geselligem Austausch mit anderen Menschen. Es sind vielleicht keine Freundschaften, es sind aber sicher reale menschliche Beziehungen – sonst wäre es gar nicht möglich, die Bedürfnisse und die spezifischen Eigenheiten eines fremden Orts und einer anderen Gesellschaft kennen zu lernen und ihr durch Architektur eine Form zu geben. Wir wollten das stets: ausserhalb der Schweiz, ausserhalb Europas, ausserhalb der uns vertrauten Welt Projekte machen. Architektonische Projekte sehen wir bis heute als Vehikel der Wahrnehmung, der Erfahrung. Viel eher denn als Mittel, den persönlichen Ausdruck unserer stilisteischen Präferenzen in der Fremde zu hinterlassen.

Was lernen wir daraus? Wir Architekt:innen sind gerne bereit, Brücken aufzubauen mit Menschen und Kulturen mit anderem gesellschaftlichem Verständnis. Wir müssen aber wissen, dass dies eine Gratwanderung ist, und wir müssen bereit sein, einen eingeschlagenen Weg aufzugeben. Mit allen Konsequenzen und den daraus entstehenden Verlusten, den finanziellen, den intellektuellen und den menschlichen.

Der Planet

Der Mensch gestaltet den Planeten um und zerstört dabei dessen Ökosysteme. Vieles verschwindet für immer. Ein grosser Teil aller Tier- und Pflanzenarten stirbt aus. Nur noch aus Geschichtsbüchern werden wir die vereisten Pole und Gletscher kennen, oder die Korallenriffs. Ganze Inseln und Erdteile werden verschwinden oder unbewohnbar sein.

Die Bautätigkeit des Menschen ist dafür massgeblich verantwortlich. Laut UNO-Umweltprogramm geht es um fast 40% des weltweiten CO2-Ausstosses, um fast 50% des Ressourcenverbrauchs und rund 60% des globalen Abfalls. Das sind grosse Zahlen und schlechte Nachrichten für uns Architekt:innen. Umgekehrt bietet sich hier ein interessantes Tätigkeitsfeld mit potenziell grosser Hebelwirkung an.

Innovation ist gefragt für andere Produktionsmethoden, andere Materialien, andere Energieträger. Innovation, die von der Industrie kommen muss. Mit Druck von der Politik. Von den Menschen. Von den Investor:innen.

Aber ja: ein bisschen etwas sollte auch von den Architekt:innen kommen.

Mit einem innovativen Investor planen wir einen Bürobau mit robotisch produzierter Decke aus Lehm und Holz. Eines unserer wichtigsten aktuellen Projekte! Dieser Bau wird uns dabei helfen, auch andere Investment Firmen zu überzeugen, neue, heute noch ungewohnte Wege zu gehen, um nachhaltiges Bauen zu fördern.

Ein Blick in internationale Architekturzeitschriften belegt es: Wir Architekt:innen planen nun überall mit Holz statt mit Beton. Mit schönen, handgemachten Lehmziegelsteinen oder mit rezyklierten, nachwachsenden und natürlichen Materialien. Das machten wir bei H&dM gerne schon früher gerne, etwa beim Steinhaus in Tavole, wo wir umgefallene Mauersteine von alten Olivenhainen im nahen Umfeld ohne Mörtel wieder aufschichteten. Oder bei der Dominus Winery, für deren Wände wir Berge lokalen Vulkansteins zusammentragen liessen. Und wir tun es weiterhin gerne, auch weil wir damit eines unserer Hauptthemen – die Materialität der Architektur – vorantreiben.

Und tatsächlich liegt in der Architektur selbst das grösste Potenzial eines nachhaltigen Beitrags durch uns alle. Wenn wir die eingesetzten Ressourcen und das Klima selbst zu architektonischen Themen formen. Das lehren uns die traditionellen Architekturen vergangener Kulturen überall auf dieser Welt. Und wir erinnern uns auch an unsere eigene Geschichte, unsere frühen Jahre. Als etwa beim ersten Ricola Projekt die Mittel, die wir für die Gestaltung des Lagerhauses zur Verfügung hatten, so gering waren, dass wir für die Fassadenverkleidung nur Eternit Platten in einem einzigen Standard Format verwenden durften.

Wir teilten dann einige Platten nach dem goldenen Schnitt, so dass wir schliesslich drei Format Grössen zur Verfügung hatten. Abfall gab es keinen. Die Platten montierten wir mit proportionaler Abstufung. Mit Ausdehnung nach oben. Es entstand eine Fassade, welche trotz der armseligen Materialien die Anmut eines Renaissance Palazzo ausstrahlt.

Noch heute hat dieser Bau eine wunderbare Qualität – ja eine Würde. Alles scheint so einfach, ist aber schwierig zu erreichen. Doch jedes einzelne Projekt bietet dafür eine neue Gelegenheit. Auch heute. Die Eternit Platten von damals sind heute PV Paneele oder andere Materialien: rezyklierte, vor Ort gefundene, traditionelle oder eben im Hightech Labor entwickelte Baustoffe. Hier wird die Bauindustrie wegen des politischen Drucks und dank Anregungen aus laufenden Projekten – wie etwa dem erwähnten Hortus Bau – uns Architekt:innen eine ganz neue Palette von Baustoffen anbieten. Der entscheidende Beitrag zum ökologischen Bauen müssen aber wir Architekt:innen durch die konkrete Arbeit an unserer Architektur, durch unsere eigene Kreativität leisten.

Der Mensch

Aber auch das reicht noch nicht. Es ist zu spät, sich erst Gedanken über Nachhaltigkeit zu machen, wenn die Verträge schon unterschrieben sind und das Projekt auf dem Arbeitstisch liegt. Was ist, wenn die Kund:in das Programm und die Grundrisse plötzlich ändern will? Das passiert immer wieder. Aber was ist, wenn dabei unzumutbare Räume, gefangene Zimmer entstehen, die unseren hiesigen Baugesetzen und gesellschaftlichen Normen widersprechen? Wenn die Kund:in insistiert und wir ohne Sanktionen nicht mehr aus einem Vertrag aussteigen können? Das passierte uns und wollen wir nicht mehr hinnehmen!

Wir Architekt:innen müssen ausserdem aufmerksamer sein, unseren Entwurf, unsere Idee eines Projekts umfassender begreifen. Wir brauchen eine antizipierende Haltung. Das heisst, eine Projektarbeit, die schon und zuerst am Verhandlungstisch beginnt, bevor es an den Zeichentisch geht. Schon in diesen frühen Gesprächen mit den Auftraggebern ist unsere Kreativität gefragt.

Es wäre deshalb falsch, die Arbeit der Architektur zu unterteilen in das Geschäftliche, besorgt von Buchhaltern, Juristinnen und ihren Verträgen – und den kreativen Entwurfsteil der Entwerfer und Planer:innen. Mehr denn je gilt das Wort von Joseph Beuys: Jeder Mensch ist ein Künstler. Und jede Arbeit ist kreativ – oder besser: jede Arbeit hat ein kreatives Potenzial, das es auszuschöpfen gilt.

Ich bin selbst kein Experte, weiss aber: Verträge regeln Honorare und Verantwortlichkeiten. Sie können aber auch Vereinbarungen über Visionen und Ziele eines Projekts festhalten. Ziele, die der Architekt vor dem Entwurf mit der Bauherrschaft ausdiskutiert. Nicht alle Auftraggeber:innen sind dazu bereit. Wir sollten es aber entschlossen versuchen.

Beispiel: In einem aufwändigen und sichtbaren Projekt in Asien sollen wir einen grossen, privaten Wohnturm planen. Wollen und dürfen wir das tun, in einem Land mit riesigem Gefälle zwischen Arm und Reich? In Verhandlungen mit der Bauherrschaft versuchen wir, das ganze Vorhaben als eine möglichst autarke Architektur zu definieren. Ökologie, CO2-Bilanz, Energie- und Nahrungsmittelproduktion. Ein Modellfall sozusagen. Das könnte funktionieren. Es gibt dafür technische und architektonische Mittel, die wir beherrschen.

Nun wollen wir aber auch einen sozialen Gewinn mit dem Projekt erreichen: Innerhalb des Gebäudes mit vernünftigem Wohn- und Aufenthaltsraum für die Hausangestellten und deren Familien. Ausserhalb des Grundstücks sollen Investitionen bereitgestellt werden zur Verbesserung der hygienischen Infrastrukturen in den angrenzenden Wohnquartieren.

Wir wollen die spezifischen sozialen und urbanistischen Bedingungen vor Ort besser verstehen. Dafür setzen wir ein kleines Team ein, starten eine „urban research study“. Sie soll sicherstellen, dass die eingesetzten Mittel und Massnahmen den Ort insgesamt verbessern. Das Projekt erhält so eine Vision mit einem Narrativ, das über das Erfüllen des ursprünglichen Raumprogramms weit hinausgeht. Das ist zwar eine neue Aufgabe für uns heutige Architekt:innen; aber so müssen wir unser Tätigkeitsfeld ausdehnen, um dem ganzheitlichen Anspruch wieder gerecht zu werden, den Architektur stets für sich reklamierte. Architekten:innen können in Szenarien und Narrativen denken – und müssen es auch, um eine Bauherrschaft zu überzeugen, mit ihnen gemeinsam einen aufwändigeren, aber auch interessanteren Weg einzuschlagen.

Denn es ist für jede Bauherrschaft ein Vorteil, wenn Viele und nicht bloss sie selbst von ihrem baulichen Eingriff in das Gefüge einer Stadt profitieren. Wenn ein Ort offener und zugänglicher und besser unterhalten ist. Wenn er nicht wie eine mittelalterliche Burg vom Rest der Welt abgeschottet ist und sich gefahrenlos nur noch mit dem Helikopter erreichen lässt, wie das heute bereits in einigen mexikanischen Grossstädten der Fall ist.

Und nun?

Vor zwei Jahren hatte ich einen „Letter to David“ geschrieben, in dem ich die Rolle der Architekt:innen angesichts der globalen Dramatik als gering, ja unbedeutend einstufte. „Nichts können wir tun“ – schrieb ich damals sogar, etwas provokativ.

Meine Einschätzung zielte vor allem auf das dramatische Schrumpfen der medialen Aufmerksamkeit weg von ikonischer Architektur, auch weg von ikonischer Kunst und deren Schöpfergestalten. Verglichen zum Hype, der seit den neunziger Jahren anschwoll, sind die Feuilletons grosser Blätter beinahe leergefegt von Lobgesängen, dafür umso voller mit Themen wie Ungleichheit und Klimakrise. Es ist paradox: Einerseits erleben wir als Architekt:innen einen Bedeutungsverlust, andererseits müssen wir unsere Verantwortung stärker wahrnehmen und in Felder hinein ausdehnen, die uns weniger vertraut sind. Wie etwa die kreative Arbeit am Verhandlungstisch oder das Einfordern sozialer Mehrwerte durch ein Projekt, wie ich es oben schilderte.

In verschiedenen Gesprächen vertrat ich oft die Meinung, dass wir Architekt:innen in all jenen Ländern sollen arbeiten können sollen, mit denen unsere eigenen Nationen im Westen Handel treiben und diplomatischen Beziehungen pflegen. Das ist eine wichtige Basis. Aber es ist nicht ausreichend. Architektur erfordert noch mehr. Sie ist keine Handelsbeziehung mit mobilen Waren. Sie ist fest mit dem Boden verbunden, einem konkreten Boden, mit konkreter gesellschaftlicher Kultur und ihren Menschen. Architektur ist der physische Ausdruck dieser Gesellschaft. Gebaute Form ihrer sozialen Prozessen und Hierarchien. Hier können wir Architekt:innen einwirken. Aber nur, wenn wir unseren Fokus konsequent neu ausrichten und uns einmischen.

In den 70er Jahren studierten Pierre und ich bei Lucius Burckhardt, einem grossen Soziologen und frühen Kämpfer für eine ökologische und gerechte Stadt. Gleichzeitig waren wir auch im Einflussbereich von Aldo Rossi, der ebenfalls an der ETH lehrte. Sein Credo: Architektur ist Architektur. Die Stadt gebaut aus ewig gleichen Archetypen. Burckhardt + Rossi, eine oxymoronische Kombination – scheinbar ohne inneren Zusammenhang?

Genau diese Kombination verschiedener Sichtweisen sahen wir stets als Chance. Als Potenzial für eine neue Architektursprache, die Architekt:innen ja gerade in ihren Anfängen finden wollen. Die Themen zu ökologischer Nachhaltigkeit können mit technischen Mitteln und Materialoptimierung gelöst werden. Dafür braucht es aber auch eine angemessene architektonische Form.

Letztlich werden wir als Architekt:innen in dieser veränderten Welt nur relevant bleiben, wenn wir die Probleme der Gesellschaft erkennen und mit unserer Kreativität einen Unterschied zur gängigen Praxis machen. Wir werden ausserdem nur relevant bleiben, wenn wir die Menschen emotional berühren. Architektur kann das. Manchmal entsteht dabei sogar Schönheit.

un gran abrazo,
Jacques Herzog,

Madrid, 30 de noviembre de 2022
Basel, 18. Dezember 2022