Ausgerechnet hier an dieser Strasse soll nun eine Kapelle entstehen? Autobahnkirchen werden rege besucht – das zeigen Statistiken. Dennoch überrascht die Idee der Gemeinde Andeer, gerade hier, in dieser Landschaft, eine Autobahnkapelle bauen zu wollen. In der Umgebung gibt es ja bereits einige Kapellen, wie übrigens auf dem ganzen Gebiet von Graubün-den. Sie wurden vor Jahrhunderten gebaut und liegen eingebettet in diese traumhafte Landschaft. Viele davon sind archi-tektonische und kunsthistorische Kostbarkeiten: seien es einfache, verputzte Mauern oder auch mit Fresken; Deckenma-lereien, Holzschnitzereien. Es sind Orte, die uns anziehen, zum Beten und zum Gottesdienst – aber auch einfach zum Staunen, Verweilen und Innehalten. Viele dieser Kapellen kennen wir. Wir haben diese Bauwerke immer dafür bewundert, dass sie bis heute Menschen faszinieren, gerade weil sie nicht in einem städtischen Kontext eingebunden sind, sondern wie ein Teil der Natur funktionieren. Gerade weil wir diese alten Kapellen lieben, war uns klar, dass wir sie nicht als ana-loges Leitbild für heute – für eine zeitgenössische Architektur – verwenden konnten. Man kann die Aura alter Mauern nicht herbeizaubern, ohne beim Kitsch zu landen.
Es gab also keine typologischen Vorbilder, keine Kirche, kein Gebetsraum – auch nicht kürzlich gebaute Architekturen ir-gendwo sonst auf der Welt, die wir hätten anschauen wollen im Hinblick auf die Andeerer Kapelle. Das ganze Konzept sollte nur aus dem Ort hier an dieser Strasse heraus entwickelt werden. Wir wollten ja auch nicht mit christlichen Symbo-len – wie Kreuz oder Christusdarstellungen – vorangehen und den Besucher vereinnahmen mit expliziten religiösen Zei-chen und Symbolen. Wir suchten nach einer Architektur, welche die sinnliche Wahrnehmung des Menschen schärft – und zwar in Bezug auf den Ort, die Natur und auf sich selbst.
Das Projekt ist für uns aussergewöhnlich, auch weil weder das Raumprogramm noch der Ort eindeutig festgelegt waren. Das alles, und natürlich die Entwicklung des architektonischen Konzepts, entstand in mehreren Begegnungen und sehr offenen Gesprächen mit Gemeindevertretern und dem Pfarrer von Andeer.
Zunächst waren also nur Fragen, etwa: Wo soll die Autobahnkapelle hinkommen? Nicht irgendwo in der Landschaft, son-dern an der Autobahn. Möglichst nahe. Wir probierten zunächst gar ein Konzept direkt über der Autobahn. Da entdeckten wir die bestehende Brücke über die Strasse, welche Dorf und Landschaft verbindet. Wir machten viele Entwürfe, darunter auch eine eingehauste Brücke, wie eine kleine Basilika über der Strasse. Dieses Konzept liessen wir fallen, weil es zu aufwändig war; aber uns gefiel die Idee der Brücke als Weg der Verbindung. Ein Weg zum Ort, ja ein Weg als Ort… gar durch die Kapelle hindurch? Aber wie sollte ein solcher Raum funktionieren?
Wegen des Standorts unmittelbar an der Schnellstrasse hatten wir auch den Lärm von Beginn an in unserem Sinn. Wort-wörtlich. Lärm als Geräusch der Strasse, das wir überwinden und hinter uns lassen wollten, mit dem Betreten der Kapel-le. Nicht durch eine einzige Türe, welche Innen und Aussen akustisch und räumlich trennt, sondern durch eine räumliche Sequenz, eine Abfolge von Raumkammern ganz unterschiedlicher Ausprägung – wie beim menschlichen Ohr. Dort dringt die akustische Welle ja durch den Gehörgang immer tiefer ins Innere und landet über verschiedene Stationen schliesslich umgewandelt zu einem akustischen Signal in unserem Gehirn, wo wir das Geräusch als solches wahrnehmen und erken-nen können.
Für die Entwicklung des Entwurfs wollten wir eine solche Sequenz untersuchen. Wir vermieden dabei aber eine anthro-pomorphe Analogie, weil uns erste Skizzen und Modelle mit organischer Formenvielfalt nicht überzeugten. Wir suchten etwas Anderes und Archaischeres. Es sollte unmittelbar auf die fokussierte Wahrnehmung des Menschen gerichtet sein: auf eine veränderte Wahrnehmung der Geräusche und des Schauens.
Als Gebäudevolumen diente uns zunächst – quasi als Platzhalter – eine möglichst abstrakte Figur: ein geschlossener weisser Würfel mit einem komplexen Innenleben verschiedener Raumzonen. Sehr introvertiert. Je tiefer man eindringt, desto schwächer sollte die Strasse tönen und zugleich umso kräftiger der Klang der eigenen Schritte. Schliesslich, in ei-nem letzten Raum angekommen, dringt plötzlich starkes Tageslicht ins Innere der Kapelle und eröffnet einen panorami-schen Blick auf die Landschaft, hin zum Dorf und dem saftigen Grün der Wiesen und Wälder. Die Wahrnehmung dieses Grüns wird noch verstärkt durch die komplementäre Farbwirkung einer raumhohen, rot eingefärbten Glasscheibe. Die tief-liegende Abendsonne scheint durch das rote Glas in diesen letzten Raumabschnitt der Kapelle. Von dort gelangt man di-rekt hinaus in die Landschaft.
Eine durch Architektur unterstützte sinnliche Wahrnehmung suchten wir. Genau wie dieser letzte Raumabschnitt sollten aber alle Teile der Kapelle eine spezifische Qualität haben, einen eigenen Fokus sozusagen. Alltägliche, ja banale Dinge: zum Beispiel der Blick zum Himmel, die Konzentration beim Lesen oder die Wahrnehmung von Geräuschen – äusseren und inneren – verursacht durch die eigenen Schritte oder den Atem. Der anfänglich gewählte geschlossene Kubus konnte das aber nicht leisten. Er wirkte zu hermetisch und zu architektonisch. Wir mussten also weitersuchen. Wir wollten Raum schaffen, aber kein geschlossenes architektonisches Volumen. Es sollte doch eher ein Weg sein, von aussen kommend, durch eine Sequenz von spezifischen Räumen hindurch und dann direkt wieder ins Freie. Dieser Weg wurde aber erst wirklich als solcher wahrgenommen, als wir ihn durch das Erdreich hindurchführten. Wie durch einen Organis-mus oder eine Höhle. Wir erkannten, dass nun nicht eine, sondern eine Vielzahl von Analogien oder Assoziationen mög-lich wurden, was wir ja von Beginn an anstrebten. Der letzte Raum mit der roten Scheibe öffnet sich in einem höhlenarti-gen Oval und erinnert dabei an die frühchristliche und heidnische Kultstätte, die Archäologen in der Nachbargemeinde Zil-lis entdeckten. Entlang des trichterförmigen Erdraums eröffnen sich dem Besucher zwei weitere kleine Kapellen: eine ers-te zum Lesen, mit Tageslicht, das gleichmässig von oben in den runden Raum eindringt. Eine zweite, mit Kerze, matt spiegelnder Wandfläche und einem gerichteten einzelnen Oberlicht. Dies ist der persönlichste Ort für die Besuchenden: Hier werden sie mit sich selbst konfrontiert.
Der Erdraum ist also als eine Sequenz von Kapellen konzipiert, mit einem ebenerdigen Ausgang gegen Westen und ei-nem Einstieg von oben über eine breite, schneckenförmig gewundene Treppe. Dieser Einstieg ist wie ein Loch im Boden oder wie ein Ablauf in einem Behälter. Vielleicht auch wie die runde Öffnung in einer Kuppel? Wir wollten das nicht festle-gen, sehr wohl aber einfassen oder umfassen, wie einen Garten oder einen Hof. Dazu braucht es vier Wände, alle gleich gross und rechteckig. Aber nicht zu einem festgemauerten Raum verbunden, was wieder zu sehr wie ein Gebäude wäre. Die Wandflächen lehnen bloss aneinander: jede Wand lehnt und stützt zugleich. Eine dieser vier Tafeln steht aufrecht. Beinahe wie eine Chorwand. Eine einfache Geste, entstanden fast wie im Spiel.
Herzog & de Meuron, 2020