Dreispitz, ein Quartier im Werden
Das Dreispitzareal ist ein 50 Hektar grosses Stück Stadt, das einer einzigen Grundbesitzerin, der Christoph Merian Stiftung (CMS), gehört. Ursprünglich als Lagerplatz vor der Stadt, dann als Zollfreilager genutzt, wurde es nach ganz eigenen Regeln überbaut, welche zu einem faszinierenden Kunterbunt von Architekturen und Nutzungen führten. Die Strassen tragen exotisch klingende Namen von Städten aus aller Welt (Helsinki-Strasse, Florenz-Strasse, Oslo-Strasse…). Es gibt Gleisanlagen und rigoros angelegte Strassenraster ähnlich wie in einer amerikanischen Stadt. Das Areal entwickelte sich in der Folge zu einem Experimentierfeld verschiedenster urbaner Aktivitäten – ein Ort des Wildwuchses nicht nur wegen der spontanen und ungeplanten Vegetation, sondern auch in sozialer Hinsicht. Weil solche Orte in der Schweiz untypisch und dementsprechend rar sind, nahmen wir 2001 den Auftrag der CMS für eine städtebaulichen Studie gerne an und versuchten, die zukünftigen Planungsschritte nicht in einem rigiden Masterplan zu diktieren, sondern eher als einen offenen Prozess zu beschreiben, der die vorhandene urbane Vielfalt weiter gedeihen lässt, zugleich aber auch eine deutliche Verdichtung ermöglichen soll. Anstatt Tabula rasa schlugen wir eine Überlagerung von verschiedenen baulichen Typologien vor: kleine, beinahe schäbige Strukturen sollten neben grossmassstäblichen Objekten bestehen bleiben können, so wie dies in der Umgebung des Schaulagers, am Südende des Dreispitzareals bereits funktioniert.
Die von uns in einer Städtebaulichen Studie „Vision Dreispitz“ vorgeschlagenen großstädtischen Analogien Manhattan, Soho und Queens sind als leitmotivische, provokative Bilder gedacht, welche viel Spielraum für das einzelne, konkrete Projekt lassen. Falls dieser Spielraum in den kommenden Jahren ausgenutzt wird, kann auf dem Dreispitz das typologisch und programmatisch vielseitigste Quartier der Schweiz entstehen. Ein erster Schritt in diese Richtung war der Umzug der Hochschule für Gestaltung und Kunst mit ihren etwa 1000 Studenten und Dozenten auf das Dreispitzareal im Sommer 2014. Die Hochschule belegt sowohl vorhandene Industriebauten als auch Neubauten. Die Arbeit am Dreispitz war für uns deshalb besonders interessant, weil es das bisher grösste Testgebiet ist, auf dem wir unsere jahrelange Forschung und unsere immer wieder vorgebrachten Forderungen zur Entwicklung der trinationalen, metropolitanen Stadt Basel konkret anwenden konnten. Eine unserer Forderungen war es stets, neue und grenzübergreifende Quartiere zu entwickeln, so dass die Bewohner auf der französischen, der deutschen oder der schweizerischen Seite in einer gemeinsam geplanten Alltagsrealität zusammen leben können, ohne die sonst üblichen Grenzabstände und Zwischenzonen, welche noch immer die Abwehrhaltung des Zweiten Weltkriegs reflektieren. Das Dreispitz-Areal ist das erste städtische Quartier der Schweiz, das von einer Kantonsgrenze durchzogen wird, die nun unsichtbar ist. Die Kantonsgrenze zwischen Basel-Stadt und Basel-Land – eine Bagatelle, würde man meinen – angesichts der notorischen Eigenbrötelei in der Schweiz ist es jedoch ein Meilenstein, sie zum Verschwinden zu bringen.2
Der Bau
Wir wollten von Beginn an nicht bloss ein Lagerhaus für unser umfangreiches Archiv sondern einen Ort mit Ausstrahlung, der dem werdenden Quartier Dreispitz Impulse verschiedener Art geben kann. Als Campus des Bildes konzipiert war von Beginn an klar, dass die Hochschule für Gestaltung und Kunst mit ihren Fachbereichen in verschiedenen Gebäuden in unmittelbarer Nähe einziehen und es wichtig sein würde, dass unser Archiv ein Ort der Forschung werden kann und so für die Studierenden eine zusätzliche Attraktivität darstellt. Besonders wichtig war die Produktion von Wohnungsraum, so dass das Quartier zu allen Tages- und Nachtzeiten belebt ist. Die gemeinsam mit unserem Koinvestor entwickelten einundvierzig Wohnungen über unserem Lager haben eine Pionierfunktion. Es sind die ersten Wohnungen auf dem Dreispitz, sie sind 2014 auf den Markt gekommen. Diese Wohnungen profitieren von einer aussergewöhnlichen Rundsicht in die umliegenden Naturräume des Bruderholzes und der Brüglinger Ebene mit dem botanischen Garten und den Sportanlagen St. Jakob – ein Privileg also, wie es sonst nur in ländlicher Umgebung zu haben ist. Trotzdem ist hier ein sehr urbaner, dichter Ort entstanden. Die Architektur des Gebäudes ist geprägt durch eine markante Form, die sich gegen oben hin verjüngt um die Lichteinfallswinkel zu den Nachbarn zu gewährleisten. Die Materialien sind roher Beton mit einer horizontalen Schalung aus schmalen Holzbrettern. Das über die Betonfassade rinnende Regenwasser wird dem Lagerhaus im Verlaufe der Jahre eine naturhafte, an Baumrinde erinnernde Oberflächenstruktur verleihen. Die spärlichen Fensteröffnungen im Lagerbereich sind gross und so konzipiert, dass sie im Inneren genügend Tageslicht für die Arbeitsplätze von Archivierenden und Studierenden gewährleisten. Die Lagerräume sind mit eigens entwickelten Archivschränken und Vitrinen ausgestattet, welche alle Modelle sichtbar und leicht zugänglich lagern – nicht unähnlich den naturgeschichtlichen Sammlungen des 19. Jahrhunderts.
Herzog & de Meuron, 2015
1 Jacques Herzog und Pierre de Meuron haben sich entschlossen, ein Kabinett zu begründen, in das sie ihren Nachlass als Schenkung integrieren wollen. Das Jacques Herzog und Pierre de Meuron Kabinett (Stiftung) ist eine gemeinnützige Stiftung, da sie das ganze, in Teilkabinette gegliederte Material des Nachlasses der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen wollen. Unter anderem zählen die Archivgegenstände dazu, die seit 1978 in den Büros von Herzog & de Meuron produziert, gesammelt und archiviert worden sind.
2 Herzog & de Meuron, „Dreispitz Basel“. In: Gerhard Mack (Ed.), “Herzog & de Meuron 1997-2001. Das Gesamtwerk. Band 4.” Basel / Boston / Berlin, Birkhäuser, 2008, Vol. No. 4, S. 157-158, leicht veränderte Fassung.