Durch diese hochliegenden Fenster, die auf beiden Längsseiten in gleichmässigen Abständen angeordnet sind, dringt das Tageslicht direkt in die Ausstellungsräume ein; es fehlen also die besonders bei älteren Galerien beliebten abgehängten Glasdecken, die jeweils einen neutralen, von der äusseren Architektur unabhängigen Raum schaffen. Hier verbindet die Glasscheibe des hochliegenden Fensters direkt mit dem Aussenraum und mit der neoklassischen Fassadenarchitektur.
Die vier Ausstellungsräume bilden eine lineare Raumfolge. Der Zugangsort zu dieser Raumfolge befindet sich jedoch weder am einen noch am anderen Ende dieser Raumfolge, also weder in Raum I noch in Raum IV, sondern in Raum II. Dies führt zu einer Ungleichheit der Räume; es bewirkt eine Hierarchisierung und Gewichtung wie beispielsweise in einer Kirche mit Vorraum (Raum II), Längsschiff (Raum III) und Chor (Raum IV):
Welche Funktion hätte bei einem solchen Vergleich dann aber Raum I? Der eintretende Besucher wendet ihm den Rücken zu, und dadurch wirkt er abgesondert, wie ein später angehängter Nebenraum, eine Erweiterung – vielleicht auch wie eine Kapelle, die einst hinzugefügt wurde. Dieser Eindruck verstärkt sich noch beim Anblick der rundbogigen, eher kleinen Türöffnung, welche oberhalb eines Treppenabsatzes in den Raum hineinführt.
Raum II ist Eingangsraum, der Ort also, wo der Besucher ankommt, nachdem er die doppelläufige, steinerne Treppe emporgestiegen ist. Der Treppenaufgang mit seinen massiven, seitlich verputzten Brüstungsmauern unterteilt den Raum in zwei korridorartige Teile. Gegenüber der Treppe befindet sich eine Türe, die in Raum III führt. Diese Turöffnung präsentiert sich als nahezu raumhoher, breiter Schlitz, der oben nur durch einen schmalen Balken zusammengehalten ist. Dadurch wird die Wand in zwei Hälften getrennt, als gälte es die räumliche Geschlossenheit des Raumes aufzubrechen. Eine geschlossenere Wandhälfte mit einer kleineren Türöffnung hätte der Architekt dieser Ausstellungsräume wohl als erdrückend empfunden – vielleicht wollte er den hohen Schlitz in der Wand proportional angleichen an den grossen Keil, welchen die massive Treppe etwa in der Mittelachse in den Boden des Eingangsraumes treibt. So wurde die Treppe nicht etwa aus dem Zentrum des Raums gerückt, damit die gegenüberliegende Wand ganzheitlich in Erscheinung treten könne, sondern es wurde im Gegenteil das Zentrum der Wand raumhoch aufgeschlitzt, damit die zentrale Lage des Treppenaufgangs ein entsprechendes räumliches Gegenüber fände und der in der Raummitte eintretende Besucher die lineare Raumfolge in geradem Weg vorausschreitend betreten könne. Dieser gerade Weg führt den Besucher in Raum III. Die fünf Fensterachsen ziehen den Raum in die Länge gleich dem Längsschiff einer Kirche. Man befindet sich hier in der Mitte der Ausstellung, in ihrem Zentrum. Mehr als in den anderen Räumen dominiert hier der Ausstellungsraum die raumbegrenzenden architektonischen Teile: Die Fensterachsen sind so zahlreich und repetitiv, dass sie beinahe verschwinden und nunmehr wie ein Lichtband wirken und die erwähnten raumhohen Schlitze an den Abschlusswänden stören wegen der grösseren Raumausdehnung viel weniger als im Eingangsraum. Raum IV bildet den Abschluss der Raumfolge, und er kündigt sich auch wie ein solcher Abschluss an: Zwei hohe Schlitze führen in den Raum hinein. Diese Schlitze sind so ausgeführt. Dass sich die dazwischenliegende Wandscheibe verselbständigt und so fast wie eine Chorschranke erscheint. Der Boden ist wie in Raum I etwas angehoben, so dass einige Treppenstufen überwunden werden müssen, um in den Raum hineinzugelangen. Man könnte es aber auch so sehen, dass der Boden etwas angehoben wurde, um einige Treppenstufen einbauen zu können und damit dem Betreten des hintersten Ausstellungsraumes eine gewisse Würde zu verleihen.
Die architektonische Sprache der vorgegebenen Ausstellungsräume ist stimmungsvoll (Rundbogentür, Treppenstufen), pathetisch (hohe Wandschlitze, Symmetrien) und erzählerisch (Gewichtung der Räume, angehobene, doppelte Böden). Die Architektur der Innenräume tritt dadurch in einen Gegensatz zu der repetitiven, gleichförmigen und ruhigen neoklassischen Architektur. Die im Gebäudeinneren durchlaufende Reihe von quadratischen Fenstern ist physischer Ausdruck des repetitiven, nichthierarchischen Äusseren im hierarchisierten und theatralischen Innern. Die räumlichen Gegebenheiten einer äusserlich repetitiven Architektur, welche im Innern durch Einbauten verändert und hierarchisiert wurde, bilden den Ausgangspunkt für die Konzeption der Ausstellung. Diese Ausstellungskonzeption lässt die repetitive äussere Ordnung stehen, gleichsam als Rhythmus eines Arbeitsprozesses und nutzt die unterschiedliche Gewichtung und Grösse der Räume, um die architektonischen Arbeits- und Ausdrucksmittel zu konzentrieren und losgelöst von den einzelnen Projekten jeweils in einem Raum zu zeigen: Skizzen in Raum I, Video in Raum II, Modelle in Raum III, Farbe und Oberfläche (Fassade) in Raum IV.
Diese Ausstellungskonzeption entspricht unserer Arbeitskonzeption: Jedes Ausdrucksmittel ist vergleichbar mit der Ebene einer Projektentwicklung und jede Ebene einer Projektentwicklung ist ein vollwertiger, vom Gebäude der späteren Architektur nahezu unabhängiger Gegenstand. Er ist unabhängig und nähert sich dennoch der zukünftigen Architektur an; er ist eigener Ausdruck und enthält dennoch die Botschaft zu seiner weiteren Entwicklung; er ist eigene Realität, als wisse er von der Zufälligkeit der ökonomischen und politischen Entschiede, die über seine Weiterentwicklung und Ausführung zur gebauten Architektur befinden werden. Jede Skizze, jedes Modell, jedes Video enthält Informationen über die Architektur, die entstehen soll; jeder dieser Gegenstände ist aber vor allem als eine eigene Realität aufgebaut, eine Realität, welche die spätere Architektur nicht mehr haben wird, auch weil wir, die das Projekt entwickeln, uns nicht in einer geradlinigen, vorhersehbaren Weise fortbewegen und mit uns auch das Projekt nicht.
Herzog & de Meuron, 1991
Architektur von Herzog & de Meuron im Kunstverein München. Eine Ausstellung in den vier Räumen des Kunstvereins München mit Beiträgen von Helmut Federle und Enrique Fontanilles sowie einem Gespräch Berhard Bürgi – Jacques Herzog.
Edited by: Kunstverein München. Exh. Cat. Architektur von Herzog & de Meuron im Kunstverein München. 1 March – 7 April 1991. Munich, Kunstverein München, 1991.