Herzog & de Meuron Basel Ltd.
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Lecture
Ăśberarbeitete Fassung eines Vortrags von Jacques Herzog an der ETH ZĂĽrich, Oktober 1996.
In: Gerhard Mack (Ed.). "Herzog & de Meuron 1989-1991. Das Gesamtwerk. Band 3. The Complete Works. Volume 3." Basel / Boston / Berlin, Birkhäuser, 2000. Vol. No. 3. pp. 222-225.
Der antike Dreiklang von Schönheit, Nützlichkeit und Festigkeit ist obsolet geworden, Vitruvs Trias aus Firmitas, Utilitas, Venustas nur noch ein Fall für den Historiker oder für die Rede des Bürgermeisters bei der Einweihung eines neuen Museums oder einer neuen Kapelle.
Dennoch ist die Frage nach Firmitas eine interessante Themenstellung für Architektur von heute. Sie fordert uns heraus, darüber nachzudenken, welche Architektur wir machen können. Letztlich lautet die Frage immer: Was ist Architektur?
Und sie splittert sich in eine Vielzahl von Fragen auf: Was ist eine Wand, was ist ein Boden? Wir stellen uns diese Fragen, weil wir sonst nicht weiter wissen, weil wir sonst ja beispielsweise nicht wissen, wohin wir unsere Schritte lenken sollen, auf welchem Boden wir noch stehen können, wohin wir schauen sollen. Es gibt keine vermittelnde Tradition für diese einfachen, selbstverständlichen Dinge, es gibt keine eindeutige Geste dafür, die wir kennen, ohne dass wir sie uns selbst erarbeitet hätten, die wir selbst einstudieren und fortwährend verbessern, weil die Welt ihre Eindeutigkeit verloren hat. Eindeutigkeit ist hier zur verstehen im Sinne von einfacher Deutbarkeit – so wie zum Beispiel ein einfacher Weg, ein eindeutiges Ziel, oder eine deutbare Architektur.
Als Beispiel für eine solche deutbare und bedeutungsvolle Architektur möchte ich ein Haus aus Graubünden nehmen, weil das besonders schön ist, das Haus Castelmur-Salis in Sils Baselgia. Ein Haus aus einer traditionellen Kultur. Ein Haus aus der Vergangenheit. Ein Haus aus einer verlorenen Zeit: Ein unglaubliches Objekt, das uns die Irreversibilität der Zeit vor Augen führt. Ein magisches Haus aus einer magischen Zeit, aus einer magischen Vorstellungswelt. Magisch, weil das Haus diese magische Vorstellungswelt selbst ausdrückt: im Grundriss, der zeigt, wie sich die Menschen im Inneren vor der Welt zurückzogen, in der Fassade, die mit Malereien und Sprüchen ausgestattet ist und sich so einerseits als künstliches, von der natürlichen Welt abgegrenztes Objekt behaupten und gleichzeitig schädliche äussere Einflüsse abwehren möchte. Wir haben viele dieser Häuser studiert, um ihr Geheimnis zu erforschen, um uns ihre Magie anzueignen, damit unsere Projekte die Welt von heute verzaubern können.
Vielleicht gelingt es hier, ein Stück Firmitas zu isolieren, so wie man Zellen verschwundener Mikroorganismen in versteinerten Überresten zu isolieren versucht: Sicher ist Firmitas in dieser Architektur zu Hause. Oder gibt es auch hier, an diesem archaischen Ort, irgendetwas, das Firmitas in Frage stellt? Irgendeine Schwachstelle in der Konstruktion, die nicht vom Geist der festen Fügung, der ewig dauernden Materialität durchdrungen wäre? Denn Firmitas kann nur heissen: absolute Firmitas, Firmitas duldet keine Zweifel und schon gar keine Schwächen. Wir alle haben schon so ein altes Haus betreten und die Mächtigkeit der Wände bestaunt und zweifelnd daran geklopft. Wir haben schon die Türen geöffnet zu den Stuben mit den schweren, knarrenden Holzböden und die Wärme gespürt, die von den glasierten Schamottsteinen des Kachelofens abstrahlt. Wir alle haben schon diese verschiedenen Sinneseindrücke an einem einzigen architektonischen Ort vereint empfunden, das Sehen, das Tasten, das Hören – und haben uns gedacht oder haben zumindest gespürt, so sollte Architektur sein. Sie sollte alle diese sinnlichen Momente ausdrücken und erfahrbar machen. Durch diese komplexe Kombination von Sinneseindrücken entsteht erst unsere Vorstellung von Festigkeit, von einer sicheren Welt, von einer Welt, der wir vertrauen können.
Am Beispiel einer traditionellen Architektur lässt sich der Begriff der Firmitas so gut festmachen, weil wir hier eine Welt betreten, die zwar nicht mehr die Welt unseres täglichen Alltags ist, aber offensichtlich noch immer unsere Sinneswahrnehmung so stark zu stimulieren vermag und uns dabei so sehr berührt, dass die meiste Architektur daneben verblasst wie ein Abziehbild.
Ist das eine romantische Betrachtungsweise?
Ja und Nein.
Es ist eine realistische Sichtweise, weil sie nicht von irgendeiner aufgezwungenen idealisierenden Position aus herrührt, sondern weil sie einzig und allein von einem phänomenologischen Blickwinkel her, aus der Betrachtung der tatsächlichen Verhaltensweisen der Menschen abgeleitet ist.
Es ist eine romantische Betrachtungsweise, weil sie von der sinnlichen Einheit der menschlichen Wahrnehmung ausgeht. Unsere Betrachtungsweise insisitiert auf dieser komplexen Sinnlichkeit, die bisher von keiner Maschine simuliert werden konnte. Architektur muss diese komplexe, an einem Ort konzentrierte und zur gleichen Zeit wirksam werdende Sinnlichkeit vermitteln, um uns anzuziehen, um uns ihre Bedeutung zu ĂĽbertragen und ihre Deutbarkeit vorzufĂĽhren.
Es ist also nicht Firmitas, wie wir sie am traditionellen Haus bestaunen und wie sie uns fasziniert, sondern die Berührung zweier Körper, des Baukörpers und des eigenen Körpers, das Berührtwerden am eigenen Körper, an Leib und Seele. Firmitas ist im Beispiel traditioneller Architektur nur eine besonders ausgeprägte Eigenschaft, sozusagen ein vermittelnder Bote zwischen Haus und Betrachter. Es ist nicht die Tatsache der festen Materialität, sondern die immaterielle, die geistige Qualität, die sich über die materielle Verfestigung unseren Sinnen mitteilt. Es ist die unauflösliche Verbindung von materiellen und immateriellen Eigenschaften der Architektur, die uns anzieht und nicht mehr loslässt, der wir uns hingeben wie einem geliebten Körper, der uns einen Moment lang in eine magische Welt entführt.
Wir unterliegen der Venustas, nicht der Firmitas; es ist die Schönheit, die uns verzaubert, die uns neugierig macht auf das Leben und auf uns selbst, die uns wachrüttelt und anregt. Es ist jene komplexe Schönheit, die Herbert Marcuse aus diesem Grunde als politisch wirksamere Waffe erkannt hat als die Dialektik eines Brecht’schen Theaterstücks.
Firmitas wäre so verstanden nicht eine eigene Kategorie auf der gleichen Ebene wie Venustas, sondern ein Spezialfall, ein absoluter Wert, der nicht erreicht werden kann, der ein Traum bleiben wird und nur so auch wirklich interessant ist. Das traditionelle Haus in Sils ist eine solche radikale Zustandsform, die seither kaum mehr erreicht wurde und nicht mit den Simulationsformen steinerner Grosstadtarchitektur verwechselt werden sollte, die seit den achtziger Jahren die Städte bevölkern wie die Zombies aus den zeitgleichen Hollywoodfilmen.
Firmitas ist eine selbstverständliche Anforderung an eine korrekte und sorgfältige Planung und Ausführung jedes Bauprojekts. Sonst geht es um Verschleuderung von Geld und Zeit. Darüber müssen wir nicht sprechen.
Davon abgesehen gibt es Firmitas jedoch nicht. Firmitas ist ein theoretischer Begriff und – so paradox das klingen mag – eine virtuelle Realität. Sie kann in der gebauten Wirklichkeit gar nicht erreicht werden. Die Baustoffe, die heute eingesetzt werden, sind weder unverrückbar stabil noch dauerhaft kristallin. Ein Bau ist gegenwärtig viel mehr aus Materialien mit unterschiedlichem Aggregatzustand zusammengesetzt. Immer häufiger sollen dauerplastische Polymere, Folien und Fugenabdichtungen Festigkeit garantieren. Heutige Bauwerke sind Zwitterwesen aus organischen und festen Stoffen, ausgestattet mit einer digitalisierten Haustechnik, die unverzichtbarer geworden ist als jener Architekt, der damit nicht umzugehen weiss.
Ein Beispiel ist die Tate Modern in London, die sich in einem bestehenden Gebäude aus Backstein und Stahl mit gebirgsähnlichen Dimensionen ausbreitet und dabei die mögliche Koexistenz von festen, fliessenden und leuchtenden Gebäudeteilen auslotet. Beinahe 40 Prozent des Gesamtbudgets kosten Haustechnik, Energieversorgung, Überwachungsanlage, das natürliche und das künstliche Licht und die Medienverkabelung. Wir haben reklamiert: Muss das sein? Kann man das nicht einfacher machen? Nein, man kann nicht. Das bestimmt nicht der Architekt und nicht der Ingenieur, auch nicht der Bauherr und schon gar nicht der Künstler. Das bestimmen die Besucher, die jeden Tag hingehen, jeden Tag 20’000 Menschen, deren Körperwärme und Feuchtigkeit von der Haustechnik eingeatmet, aufgesogen, gereinigt, gekühlt, getrocknet, gefiltert und wieder eingeblasen werden. Diese Menschen bleiben nicht einfach im Gebäude stehen. Sie bewegen sich wie in einer Stadt, wie in einem Flughafen oder einem Bahnhof; sie treffen sich, sie sprechen, essen, schwitzen, schauen und gehen wieder. Bewegung ist die Regel; alles bewegt sich, die Menschen, die Maschinen hinter den Wänden und den abgehängten Decken, die Rolltreppe. Welche Art von Ausstellungsräumen soll da der Architekt konzipieren? Soll er der scheinbar unausweichlichen Logik folgen und die Böden, Decken und Wände aufschlitzen für die unerlässlichen Einlässe und Auslässe?
Was haben sich die Architekten gedacht, welche die Museen der letzten Jahre bauten oder noch immer planen? Welche Konzepte für die Kunst und welche für den Menschen, der diese Kunst anschaut, haben sich entwickelt? Einige gaben sich einem persönlichen Gestaltungsdrang hin, sodass Rudolf Steiners Goetheanum daneben wie eine kartesische Klause anmutet und die Kunst darin an kreativer Anämie zu leiden scheint. Puristen und Konservative besannen sich auf die alte Museumsarchitektur mit den vollflächigen Glasdecken, die klassische Sammlungen besonders hübsch zur Geltung bringen. Moderne Geister gestalten Oberlichter wie aufgehängte Plastiken, ähnlich wie Kahn oder Aalto.
Ein Ausstellungsraum für Kunst ist in unserer Vorstellung ein viel einfacherer Raum, und gerade darin liegt die Schwierigkeit. Wie macht man einen einfachen, homogenen Raum, mit einem festen Boden, Wänden und einer dazugehörenden, nicht irgendwie abgehobenen, entrückten oder davonfliegenden Decke? Vielleicht gibt es Öffnungen im Boden oder in der Decke, z.B. beim Übergang zum Oberlicht. Das ist noch kein Angriff auf die Einheit des Raums. Der Spielraum ist aber so gering, dass es eigentlich gar nicht möglich ist, die von uns gestellten Anforderungen an den idealen Ausstellungsraum zu erfüllen. Der geforderte, schlichte Raum ist ein Extremfall, eine Art Radikalisierung der Normalität, ein Ort, der so sehr von sich selbst ablenkt, dass dabei eine Spannung entsteht, eine räumliche Konzentriertheit, die sich auf das Kunstwerk überträgt und eine Wahrnehmung der Kunst ermöglicht, die viel unvermittelter und viel heftiger ist, als es die Besucher erwarten und gewohnt sind.
Solche Ausstellungsräume materialisieren Firmitas. Dennoch erscheinen sie in diesem rauhen Gebäude wie Räume aus einer Welt der Ideen. So betrachtet sind die Ausstellungsräume viel virtueller als die virtuelle Präsentation des Ausstellungsguts auf den Bildschirmen im Eingangsgeschoss des Museums.
Am Tate-Projekt kann man erkennen, wie Firmitas als eine mögliche architektonische Strategie heute eingesetzt werden kann und wie dadurch das architektonische Projekt als Ganzes an Komplexität gewinnt: Firmitas ist eine örtlich begrenzte Radikalisierung, eine Verdichtung von architektonischer Intentionalität, eine Art Hyperrealität innnerhalb eines Projekts.
Wie das Tate-Projekt zeigt, haben wir die Hoffnung, dass es gerade die Zwitterhaftigkeit ist, das Vermischen von Materialien unterschiedlicher Herkunft, die unterschiedliche Gewichtung und Intensivierung von Orten, die die heutige Architektur so attraktiv machen können wie die traditionelle Architektur eines alten Engadinerhauses. Es besteht die Möglichkeit des Sowohl als auch, wir unterliegen nicht mehr dem tradierten Kanon einer vorgegeben Spur noch einem Diktat, wie z.B. den Corbusischen „Règles pour Messieurs les architectes“. Wir sind frei und nur auf uns selbst gestellt. Wir können diese Herausforderung annehmen und die immer schneller und heftiger auf uns einstürzenden Bilder zu neuen, bildhaften, architektonischen Räumen gestalten. Zu architektonischen Räumen, die nicht mehr einer Tradition entstammen, sondern einer reinen Vorstellungswelt, einer virtuellen Welt. Nur eine solche selbst geschaffene Vorstellungswelt gibt dem Architekten heute die Möglichkeit, sich zu bewegen und sich auszudrücken. Entscheidend ist die eigene Wahrnehmungsenergie. Sie bestimmt, ob unilateral auf uns projiziert wird oder ob wir selbst aktiv auf die Welt projizieren, ob wir selbst als projektschöpfende Menschen tätig zu sein vermögen.